Pater Milivoje Ciric zelebrierte in der kleinen Kirche über dem Flussufer die Messe zum orthodoxen Dreifaltigkeitsfest. Im Plaza Hotel unterhalb der Kirche gab der Geschäftsführer ein Mittagessen für die Belegschaft. In den an den Kirchhof angrenzenden Straßen boten Bauern und fliegende Händler wie an jedem Sonntagmorgen ihre Waren feil. Kartoffeln und Feldfrüchte, Kreissägeblätter und Werkzeug, Turnschuhe und adidas-Hemden. Die 16-jährige Sanja Milenkovic überquerte mit ihren Freundinnen Marina Jovanovic und Marijana Stojanovic die schmale Eisenbrücke, die hier über die Morava führte. Fünfzig Meter unterhalb der Brücke stand Radomir Stojanovic auf einer Kiesbank und angelte.
Der Krieg hatte die idyllische Kleinstadt Varvarin im südlichen Serbien bislang nur gestreift. Ein aus dem Ort stammender Polizist war am 8. Januar bei einem Gefecht mit der UÇK im Kosovo umgekommen. Einmal, es war Anfang Mai, überquerte ein Luftabwehrverband nachts die Brücke. Ein anderes Mal, zwei Nächte vor dem Dreifaltigkeitsfest, hörten Anwohner Panzer durch die Straßen rumpeln. Um neun Uhr heulten an diesem 30. Mai die Luftschutzsirenen. Niemand machte ein großes Aufheben darum. An diesem Tag richteten alliierte Piloten hier ein Blutbad an, das die Nato als »legitimen Angriff auf eine Hauptnachschublinie der serbischen Armee« rechtfertigte.
Zwei Düsenjäger, so groß wie ein Paar Schuhe
Radomir Stojanovic sah kurz vor ein Uhr von seiner Kiesbank auf. Der Himmel war blau und wolkenlos. Er erblickte zwei Düsenjäger, die über Varvarin nach Norden flogen. Er konnte sie deutlich erkennen. Sie erschienen ihm, erinnert er sich, so groß wie ein Paar Schuhe. Sie zogen eine weite Schleife. Er verlor sie aus den Augen. Eine Weile später entdeckte er sie wieder. Sie flogen in gleicher Richtung wie zuvor. Dann beschrieben sie eine Kurve nach Osten. Eine Maschine glitt im Sinkflug nach Süden ab. Auf einmal hörte er ein Geräusch, das er als scharfes »Zzzimmm« nachahmt. Zwei etwa zwei Meter lange Flugkörper zischten vom Horizont direkt auf ihn zu. Es kam ihm so vor, als kreiselten sie im Flug. Er warf sich zu Boden und begrub seinen Kopf unter den Armen.
Die Bomben trafen die Brücke über dem Mittelpfeiler. Sie durchtrennten die eiserne Fachwerkkonstruktion wie ein blitzartig schneidender Schweißbrenner. Die entzweiten Brückenteile stürzten auf beiden Seiten des Pfeilers in den Fluss. Stojanovic war unverletzt. Als er von der Kiesbank aufsah, erblickte er auf der Seite von Varvarin ein Auto, das aus den Fluten ragte. Es war Ratobor Simonovics Wagen, der seine Mutter Ruzica vom Markt nach Hause brachte. Auf der anderen Seite klammerten sich die drei Mädchen dicht über dem geschwind fließenden Wasser an das Brückengeländer. Sie waren gerade in der Mitte der Brücke angekommen, als sie die herannahenden Flugzeuge - oder waren es die Bomben? - hörten. Sie rannten um ihr blankes Leben. Bevor sie das Ufer erreichten, brach der Boden unter ihnen ein.
Marina Jovanovic, ein temperamentvolles Mädchen, humpelt bis heute auf Krücken. Unter ihrem Nacken hat sie eine tiefe, fingerlange Narbe. Marijana Stojanovic, sie ist stiller und schüchterner als ihre Freundin, trägt einen Arm in Gips. Sanja Milenkovic ist tot. Marijana und Sanja stammen aus dem Dorf Donji Katun, das abseits vom Ufer in den Flussniederungen jenseits von Varvarin liegt.
Marina ist in Belgrad zu Hause. Ihre Eltern hatten sie wegen des Krieges hierher geschickt, damit sie Schutz vor dem Bombardement der Hauptstadt fände. Sie schildert die der Explosion folgenden Minuten wie einen Film, der nicht weiterläuft, sondern sich wie eine festgefrorene Sequenz in ihrem Gedächtnis eingegraben hat. Kurz nach der Explosion, sie blickte auf ihre Armbanduhr, es war eine Minute nach eins, fiel sie in Ohnmacht. Zwei Minuten später wachte sie auf. Hoch am blauen Himmel sah sie die Kondensstreifen zweier Flugzeuge. Sanja, sie lebte noch, hing mit dem Kopf nach unten über dem Wasser. Sie sagte: »Träumst du es?« Marina rutschte vorsichtig hinunter, um ihr zu helfen. Jetzt war es sechs Minuten nach ein Uhr. Zum zweiten Mal schlugen Bomben ein.
Radomir Stojanovic packte nach der ersten Explosion seine Angelausrüstung zusammen. Die Handlung eines Menschen im Schock, der so tut, als sei gar nichts Bemerkenswertes passiert. Er ging zum Flussufer. Jetzt hörte er die Flugzeuge, deren Kondensstreifen Marina sah. Er kraxelte die Uferböschung hinauf. Er stand auf dem Flutdamm, als er zum zweiten Mal Bomben auf sich zukommen sah. Er warf sich hinter den Damm.
Auch andere Zeugen, die das Bombardement überlebten, hörten den Überflug zwischen den zwei Angriffen. Was sahen die Piloten von dort oben? Auf dem Ufer von Varvarin war hektische Aktivität ausgebrochen. Die Druckwelle der Explosion hatte im Hotel Plaza die Fenster eingedrückt und etliche Gäste des Belegschaftsschmauses von ihren Stühlen gestoßen. Zuerst herrschte völlige Stille. Dann rannten schreiende Kinder in den Raum. Die gesamte Gesellschaft floh durch die Küche und suchte im Keller Schutz, besann sich dann aber wegen der dort montierten Heizkessel und Gasleitungen eines anderen. Als der Hausmeister Dragoslav Savic aus dem Haupteingang rannte, sah er die drei Mädchen auf der anderen Seite des Flusses. Er rannte zurück in die Rezeption, telefonierte die örtliche Polizeistation an und rief in den Hörer, sie sollten die Polizeistation in ±icevac benachrichtigen, von hier aus könne niemand helfen. Er war wieder auf halbem Weg zur Brücke, als die Bomben »wie zwei hell leuchtende Feuerbälle« aus dem Himmel fielen.
Dutzende Menschen waren nach dem ersten Angriff vom Markt zum Ufer hinuntergelaufen. An der Uferbefestigung kletterten Männer in die Tiefe, um den in ihrem versinkenden Auto gefangenen Simonovics zu Hilfe zu kommen. Jemand schrie nach unten: »Ihr seid doch blöd, die schießen immer zweimal!« Zoran Marinkovic schrie zurück: »Hier kommen sie!« Im nächsten Augenblick waren beide tot.
Die meisten Zeugen sagen, die zweite Detonation sei lauter gewesen als die erste. Ein Knall, vermutlich dieser zweite, war bis nach Krucevac, 16 Kilometer flussaufwärts, zu hören. Im vierten Stock eines Bürohauses im Stadtzentrum zitterte dort der Boden. Die Bomben schlugen in den halb im Wasser versunkenen Brückenteil auf der Seite von Varvarin ein. Die Explosion schleuderte ein zimmergroßes Brückensegment gut hundert Meter in den Friedhof jenseits der Kirche. Es liegt dort heute noch. Scharfzackige Bombensplitter schwirrten durch die Luft. Das Auto der Simonovics verschwand in den Fluten.
Ratobor Simonovics vom Wasser aufgeschwemmter Körper trieb erst Tage später am Ufer an. Am Nachmittag dieses sonnenhellen Tages, der so friedlich begonnen hatte, lagen acht Leichen im Totenhaus. Aus dem blutverschmierten Hemd des Priesters Milivoje ±iric ragte ein roher Nackenstumpf. Ein fliegendes Eisenteil hatte ihm den Kopf abgeschlagen. Vojkan Stankovic, 31 Jahre alt, lag blasshäutig und mit verrenkten Gliedmaßen wie ein frühchristlicher Märtyrer zwischen zwei Feldbahren. Aus seiner aufgeschlitzten Körpermitte fiel das Gedärm.
Jemand hatte Zoran Marinkovics rechtes, am Becken abgerissenes Bein über seine linke Schulter gebettet. Der blank geputzte, schwarze Sonntagsschuh war noch ordentlich daran befestigt. Milan Savics über den Knien losgerissene Unterschenkel lagen umgekehrt auf seinem zerfetzten Unterleib. Dragoslav Terzics Schädel war in der Mitte aufgeschlagen. Nur die aus dem Fluss geborgene Ruzica Simonovic war äußerlich unverletzt. Jemand beschrieb ihr Gesicht als »friedlich im Tod«. Sanja Milenkovic starb vermutlich nach dem zweiten Bombardement, jedenfalls bevor sie und ihre Freundinnen in das Bezirkskrankenhaus von Krucevac eingeliefert wurden.
Die Piloten waren zu dem Zeitpunkt wieder auf ihrem Stützpunkt gelandet. Die Washington Post zitierte einen Nato-Beamten, der behauptete, ein Pilot, der »in soundso viel tausend Fuß mit einem Affenzahn dahinfliegt«, könne unmöglich »auf die Brücke drängende Schaulustige sehen und sie warnen«.
Wer die Piloten waren, gibt die Nato nicht bekannt. Das Public Information Office der Supreme Headquarters Allied Powers in Europe (SHAPE) im südbelgischen Mons will nicht einmal ihre Nationalität verraten. Die amtliche Version des Vorfalls lautet: »Zwei F-16 griffen die Brücke mit 4 lasergesteuerten 2000-Pfund-Bomben in kurzem Abstand an. Der erste Angriff zerstörte den Mittelteil, der zweite Angriff den Rest der Brücke.«
Die Brücke war, ist von dem in Mons für die deutsche Presse zuständigen Oberstleutnant Michael Kämmerer zu erfahren, ein »Sekundärziel«. Das heißt, die Piloten fanden bei ihrer Mission das ihnen eigentlich zugedachte Ziel bereits zerstört vor. Deshalb suchten sie ein »Ausweichziel«.
Warum griffen sie es am helllichten Tage an, noch dazu am Sonntag, an einem besonderen Sonntag, an dem mehr Menschen als üblich zur Kirche gingen? Wussten sie, dass Markttag war? Und wenn sie es nicht wussten - warum hatte es ihnen bei der Einsatzbesprechung niemand gesagt? Versicherte Nato-Sprecher Jamie Shea dem versammelten Pressekorps nicht immer wieder, dass alle Einsätze darauf angelegt seien, den »Kollateralschaden« zu minimieren?
Die Flugpläne für jeden Einsatz wurden während des Kosovokrieges vom Desk Officer des Combined Allied Operations Command (CAOC) in Vicenca abgefasst. Sie basierten auf weiter oben in der Rangordnung zusammengestellten Ziellisten.
Wer die Ziellisten zusammenstellte, weiß Oberstleutnant Kämmerer nicht: »Da müsste ich mal nachhaken.« Das Nachhaken bleibt ohne Erfolg. Nur so viel kann er sagen: »Da ging viel Gehirnschmalz rein.«
Der Washington Post zufolge klassifizierte ein Planungsstab zivile Ziele nach der Höhe des zu erwartenden Kollateralschadens. Stufe 3 stand beispielsweise im Fall des Parteihauptquartiers in Belgrad für »bis zu 350 Tote, davon 250 Zivilisten«. Die Ziele wurden auf höchster Ebene von Bill Clinton, Tony Blair und Jacques Chirac abgesegnet.
Sekundärziele, ist von Kämmerer zu erfahren, schlüpften ohne die politische Musterung auf die Zielliste. Für sie gab es weder eine Festlegung der Angriffszeit noch eine Vorabschätzung möglicher Opfer. Eine Kriegsführung ohne Rücksicht auf Verluste?
George Robertson war während des Krieges britischer Verteidigungsminister. Fast täglich zog er im Fernsehen entrüstet gegen »Milocevics Militär- und Propagandamaschine« zu Felde. Nach dem Krieg ließ Tony Blair ihn von der Queen adeln.
Heute ist der Lord Generalsekretär der Nato - und so auskunftsbereit wie ein jugoslawischer Apparatschik. Ein langer Brief mit der Bitte um Aufklärung der Umstände der Brückenbombardierung bleibt unbeantwortet. Trotz des Versprechens seiner Sekretärin, er werde sich darum kümmern, sobald er Zeit fände.
Der Einsatzplan für die Piloten - immer noch geheim
»Da können Sie lange warten«, meint John Erickson lachend. Erickson, Professor for Defense Studiesan der Universität Edinburgh, ist einer der prominentesten Militärwissenschaftler Großbritanniens. »Wir kennen unseren George Robertson«, sagt er. »Der Mann ist unmöglich.« Die Preisgabe unverfänglich scheinender Details ließe Rückschlüsse auf Einsatzbefehle zu. Die Einsatzbefehle werden streng geheim gehalten. Deshalb sei nicht einmal die Flughöhe der Kampfbomber in Erfahrung zu bringen. Die Geheimniskrämerei, glaubt Erickson, diene der Vertuschung der Realität.
Aus den Zeugenaussagen von Varvarin geht seiner Meinung nach klar hervor, dass der zweite Angriff »ein gezielter Angriff auf Zivilisten war. Von Kollateralschaden kann man da nicht sprechen. Die Brücke war kaputt. Weder Militär noch Polizei hielt sich in der Nähe auf. Die Aktion verstieß gegen alle Regeln der Kriegsführung. Es war ein Kriegsverbrechen.«
»Die Piloten sind Kriegsverbrecher?« - »Sie tragen die Verantwortung, weil sie offenbar niedrig genug flogen, um die Menschen an der Brücke zu erkennen.« Möglicherweise überschritten sie ihren autorisierten Handlungsspielraum. »Es sieht so aus, als ob sie schlicht ihre Munition loswerden und der Brücke den Rest geben wollten.« Es sei aber nicht auszuschließen, dass die Nato »freies Feuer« auf »Gelegenheitsziele« angeordnet hatte. Dafür spricht, dass Angriffe auf nichtmilitärische Ziele während der Kampagne darauf angelegt gewesen seien, größtmögliche Verwirrung in der Zivilbevölkerung zu stiften. Vielleicht, meint Erickson, sei es kein Zufall, dass eine breitere Brücke, die 13 Kilometer nördlich von Varvarin inmitten von Feldern die Morava überspannt, nicht bombardiert wurde: »Das hätte nicht den erwünschten psychologischen Effekt gehabt.«
»Sie meinen, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren?«
»Ja.«
Der Militärwissenschaftler vermutet, dass amerikanische Bomber den Angiff auf die Brücke von Varvarin flogen. Nichtamerikanischen Piloten fehle die operative Kompetenz beim Einsatz lasergesteuerter Waffen. Der Pilot lässt bei dieser Technik seine Bomben in den reflektierten Lichtkegel eines von ihm oder von einem Begleitflugzeug auf das Ziel gerichteten Lasers gleiten. Die Bomben eiern an der Innenwand des Kegels wie in einer spitzen Tüte ins Ziel. Das vermutlich verwendete System Pave Way 2 hat eine Zielgenauigkeit von 20 bis 50 Metern.
Menschen? »Danach hält man nicht Ausschau ...«
Auch Paul Beaver ist sich ziemlich sicher, dass Amerikaner den Einsatz flogen. Beaver ist selbst Pilot. Er flog in der britischen Royal Air Force. Er rekonstruiert den Ablauf der Bombardements aus seiner Kenntnis der Befehlsstrukturen und aus der psychologischen Verfassung der Bomberpiloten. Als die zwei F-16 ihr Primärziel zerstört fanden, meldete sich der Einsatzführer bei der Kommandozentrale, vermutlich einer fliegenden Awacs. Von dort bekam er die Codenummer für ein Sekundärziel, »irgendetwas wie sieben-drei-neun-vier bravo.« Er tippte die Nummer in den Bordcomputer ein. Der Computer spuckte die genaue Lage des Ziels aus. »Die Piloten wussten nicht, was das Ziel war.«
Bei ihrem ersten Überflug kundschafteten sie es aus. Bei einer Flughöhe bis zu 6000 Metern sei es mit dem üblicherweise verwendeten, fotografisch funktionierenden LANTIRN-System und einem »guten Auge« möglich, jedes Detail am Boden zu erkennen.
»Auch Menschen?«
»Offen gesagt, nach Menschen hält man da nicht Ausschau. Ein Pilot denkt erstens daran, selbst mit dem Leben davonzukommen, und zweitens, das Ziel zu zerstören. Man konzentriert sich auf das Ziel.«
»Warum griffen die Piloten ein zweites Mal an? Beim Überflug zwischen den Angriffen müssen sie doch gesehen haben, dass die Brücke zerstört war?«
Der zweite Angriff entsprach den Dienstanweisungen, doch er war »schlecht platziert«. Es ging um die Totalzerstörung der Brücke durch eine Sprengung der Uferbefestigung, des »Auflegers«.
»Ein Schuss in die Uferbefestigung hätte vermutlich noch mehr Unheil angerichtet. Man kann sich doch vorstellen, dass nach dem ersten Angriff Menschen zum Ort des Geschehens laufen und Verletzten helfen wollen!«
»Natürlich, dazu gehört nicht viel Fantasie.«
»Gibt es keine Anweisungen, in solch einer Situation einen zweiten Angriff zu unterlassen?«
»Ganz im Gegenteil. Im Zweifelsfall greift man das Ziel noch einmal an. An die Menschen dort unten denkt man nicht. Die sind weit weg.«
Anfang November wurde eine neue, moderne Brücke über die Morava eingeweiht. Sie wurde mit Spenden in der Schweiz lebender Serben finanziert. Die Autos fahren fast zögernd über das leuchtend rote Bauwerk. Manche Wagen halten auf der Seite von Varvarin an. Die Insassen steigen aus und schreiten nachdenklich um ein hier errichtetes Denkmal für die Opfer des blutigen Sonntags.
Zu Hause in Donji Katun holt Sanjas Mutter ein Foto ihrer Tochter hervor, auf dem der Teenager fröhlich mit seitlich auf den Kopf gesetzter Baseballmütze in die Kamera lacht. Sanja ging auf eine Hochbegabtenschule, das Mathematische Gymnasium in Belgrad. In ihrem Zeugnis standen nur Einsen. Sie war einen Meter achtzig groß. Ihre Mutter nennt sie immer noch »die Kleine«.
In einer Ecke des Wohnzimmers steht wie ein Heiligenschrein Sanjas mit einem Plastikschutz abgedeckter Computer. Auf dem Tisch eine Blumenvase. Der Großvater, ein Hüne von einem Mann, behauptet, es war ein deutscher Flieger, der seine Lieblingsenkelin getötet habe. Ein Freund der Familie, er ist Physiker, erklärt, er habe Beweise, die Piloten hätten absichtsvoll mit dem zweiten Angriff gewartet, um möglichst viele Zivilisten zu treffen.
Sanjas Mutter ist Chefsekretärin einer Handels- gesellschaft in ±icevac. Manchmal drohen die Tränen sie zu überwältigen. Dann straffen sich ihre Züge, und in ihrem Gesicht wird eine tiefe innere Stärke sichtbar, wie auf einer antiken Skulptur. Sie ahnte, dass die Brücke ein mögliches Angriffsziel war. Als ihre Tochter am Morgen des Dreifaltigkeitstags nach Varvarin wollte, mochte sie sie erst nicht gehen lassen. Aber dann sagte sie sich: »Blödsinn, es ist doch Sonntag, es kann nichts passieren.«
Jetzt sagt sie mit feuchten Augen: »Wir hatten die Kleine aus Belgrad hierher gebracht, um sie zu beschützen. Hier wurde sie umgebracht.« Dann, wieder gefasst, setzt sie hinzu: »Man kommt von der Frage nicht weg: Warum?«