Bonn. Stumm stehen Angehörige und Freunde vor dem Bonner
Landgericht. In den Händen halten sie Bilder der Toten und
rote Nelken. "Meine Tochter Sanja hat es nicht
verdient, auf diese Art zu sterben", sagt Zoran
Milenkovic. Er ist Bürgermeister des 4000-Einwohner-Städtchen
Varvarin, das 180 Kilometer südöstlich
von Belgrad liegt. Die 15-Jährige starb kurz vor Ende des
Kosovo-Kriegs am 9. Mai 1999 bei einem Luftangriff der Nato.
Mit ihr neun andere, siebzehn erlitten zum Teil schwerste
Verletzungen. Milenkovic fordert mit 34 Betroffenen von der
Bundesrepublik Deutschland 3,5 Millionen Euro
Schmerzensgeld. Es ist das erste Mal, dass die
Bundesrepublik Deutschland wegen eines Nato-Kriegseinsatzes
verklagt wird.
"Wir betreten Neuland"
"Wir betreten Neuland",
sagt der Vorsitzende Richter Heinz Sonnenberger. "Eine
Zivilkammer beschäftigt sich nicht jeden Tag mit dem Völkerrecht."
Bislang ging die geltende Rechtsprechung davon aus, dass
nach Kriegen nur zwischen Staaten Entschädigungen geltend
gemacht werden können. Doch seitdem auch der
Bundesgerichtshof Zweifel an diesem Grundsatz anmeldet,
herrscht Unsicherheit unter den Juristen bei der
Entscheidungsfindung.
Sonnenberger fällt es nicht
leicht, die Ereignisse von damals in Worte zu fassen.
Mittags, bei herrlichem Sonnenschein, feiern die Bewohner
das Dreifaltigkeitsfest. Menschen ziehen mitten im Ort über
die 180 Meter lange und 4,50 breite Brücke zum Markt, an
dem 355 Händler ihre Ware anbieten. Kurz nach 13 Uhr
tauchen mehrere F-16 Kampfjets auf, bombardieren mit
lasergesteuerten 2000-Pfund-Bomben die Brücke über dem
Fluss Morava. Menschen eilen den Verletzten zu Hilfe. Die
Maschinen drehen eine Schleife und greifen erneut an.
"Die Bilder sind an Grausamkeit nicht zu überbieten",
sagt Sonnenberger, "mit sterbenden und toten
Menschen." Die Opfer sind zerstückelt, verstümmelt,
verbrannt.
Die Hamburger Rechtsanwältin Gül
Pinar und ihre Kollege, der Berliner Anwalt Ulrich Dost,
werfen der Bundesregierung als Mitglied der Nato vor, gegen
das 1977 unterzeichnete Genfer Protokoll zum Schutz von
Zivilpersonen bei militärischen Auseinandersetzungen verstoßen
zu haben. Die Bundesregierung habe die Luftoperationen
gebilligt. Dabei sei es juristisch ohne Bedeutung, dass
deutschen Flugzeuge an den Angriffen nicht beteiligt gewesen
seien. "Der ehemalige Verteidigungsminister Scharping
schreibt in seinem Buch ,Wir dürfen nicht wegsehen, dass im
Nato-Rat die Bombardierung von Zivilbevölkerung im
Kosovo-Krieg ein ständiges Thema gewesen ist", sagt
Anwalt Dost. "Die Bundesregierung hätte jeden Tag die
Möglichkeit gehabt, ihr Veto einzulegen."
Urteil am 10. Dezember Die
Bundesregierung hatte schon im Vorfeld des Verfahrens die
Forderungen zurückgewiesen. Es bestehe völkerrechtlich
kein Anspruch auf Entschädigung. Die Menschen aus Varvarin
wollen sich davon nicht entmutigen lassen. Wie hat es die
Mutter der Toten Sanja, Vesna Milenkovic, einmal formuliert:
"Man kann nicht jemanden umbringen und dann ist keiner
verantwortlich." Das Gericht will seine Entscheidung am
10. Dezember verkünden.
Von Joachim Karpa
Quelle:
http://www.archiv.westfalenpost.de/main_mappe2.asp?file=1&docid=00481028&verid=001
|