Jugoslawien-Krieg: Ich
hoffe, die Seelen der Getöteten verfolgen die Piloten!
Bürger aus dem serbischen Ort werden die Bundesregierung auf Schadenersatz
verklagen
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Die Brücke nach dem Angriff. Sie kam als Reparationsleistung aus
Deutschland nach Varvarin
Foto: Gabi Senft |
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Ein Massaker kommt vor Gericht. Verübt wurde es am 30. Mai 1999 zwischen
13.00 Uhr und 13.25 Uhr in Varvarin. Es war Markttag, man beging das Fest der
Heiligen Dreifaltigkeit. NATO-Piloten griffen die serbische Stadt mit
High-tech-Raketen an, zerstörten die Brücke über die Morava und ermordeten
dabei zehn Menschen. 17 wurden zum Teil schwer verletzt. Ein Kriegsverbrechen,
der nächste militärische Posten war 22 Kilometer entfernt. Zwei Jahre nach der
Aggression sind die Verantwortlichen noch immer nicht zur Verantwortung gezogen
worden. Nun mahnen Bürger der Stadt Schadenersatz an. Angeklagt ist die
Bundesrepublik Deutschland. Unterstützt werden sie von dem Berliner
Rechtsanwalt Ulrich Dost und einem Projektrat. Der sammelt unter anderem
Spenden, um die finanzielle Grundlagen für diese erste Klage, der weitere
folgen sollen, zu schaffen. Auf Einladung der PDS-Bundestagsfraktion sind
derzeit fünf Varvariner Bürger in Berlin, um über ihr und das Schicksal ihrer
Nachbarn zu informieren. Am Donnerstag, zu jener Zeit, da man den jugoslawischen
Ex-Präsidenten Milosevic aus dem Gefängnis holte, um ihn an den
Internationalen Gerichtshof in Den Haag »zu verkaufen«, notierte RENÉ
HEILIG Berichte, Gedanken und Hoffnungen.
Predrag Milosevic
Bei dem Angriff wurde meine linke Hüfte total zerschmettert. Auch das Knie hat
etwas »abbekommen« und mit dem Gehör steht’s auch nicht mehr zum Besten. In
Zukunft, so sagen die Ärzte übereinstimmend, ist eine Verschlechterung zu
erwarten. Das Schlimmste ist aber der psychische Schaden, den wir alle
davongetragen haben.
Marijana Stojanovic
Ja. Auch ich kann die Bilder, all dieses Grauen, das da am 30. Mai 1999 über
uns gekommen ist, nicht aus meinem Gedächtnis streichen. Ich habe meine beste
Freundin verloren: Sanja. Ich war mit ihr und Marina unterwegs zum Festumzug.
Verstehen Sie, ganz fröhlich. Plötzlich war da nur Krach und Dreck und Blut...
Ich hoffe inständig, dass der Schuldige, der Verbrecher, der Mörder sich dafür
eines Tages verantworten muss.
Zoran Milenkovic
Sanja war meine Tochter. Das ganze Leben lang wird mich die Frage beschäftigen:
Hätte ich ihr helfen können, wenn ich bei ihr gewesen wäre?! Verstehen Sie,
dieser Gedanke, nicht einmal eine Chance gehabt zu haben, mein Kind zu beschützen...
Gleich nach dem zweiten Angriff war ich an der zerstörten Brücke, ich bin
gerannt, so schnell ich konnte. Und konnte nichts tun. Heute weiß ich, dass ich
als Vater davon hätte ausgehen müssen, dass unter diesen Piloten keine
Menschen sind. Denen bedeutet ein Menschenleben überhaupt nichts. Ich hoffe,
dass die Seelen der Getöteten die Piloten und ihre Befehlsgeber verfolgen
werden, dass sie keine ruhige Minute finden. So wie wir.
Momcilo Jevtic
Was meine Nachbarn in ihrem Innersten aushalten müssen, ist nicht mit Worten zu
beschreiben. 14 Jahre war ich Feuerwehrmann in unserer Stadt. Wir sind zur Brücke
geeilt, das war unsere Pflicht. Was wir dort vorfanden – ich hatte schon viel
gesehen, aber so etwas... Wir taten, was wir konnten und das war so wenig. Zumal
sie ein zweites Mal angriffen. Mitten in den Rettungsarbeiten. Mich trafen sie
an der linken Hand. Die Ärzte sagen, dass mir die Zähne ausfallen, hängt auch
mit dem Erlebten zusammen. Für die Feuerwehr bin ich nicht mehr tauglich.
Predrag Milosevic
Die NATO hat gesagt – und behauptet es noch immer – die Angriffe wären
notwendig gewesen, um den Diktator Milosevic zu stoppen. So eine Lüge! Das hat
unser Volk selbst geschafft. Nicht mit den modernsten Bomben und Raketen konnte
man Milosevic stürzen.
Zoran Milenkovic
Auch dass man unsere Brücke bombardieren musste, damit man den Kosovo-Krieg
beendet, ist eine pure Erfindung. Varvarin ist 200 km von Kosovo entfernt und
nur zivil besiedelt. Von uns war keiner in irgendwelchen Einheiten in Kosovo,
wir haben keine Menschenrechte verletzt, niemandem ein Leid zugefügt. Es gab im
Ort und rings herum keinerlei militärische Einrichtungen, nicht einmal eine
Luftabwehr. Hier führte man keinen Nachschub durch. Die Brücke war also
strategisch unwichtig. Eine wirklich wichtige, die vom Autopud nach Belgrad, ließ
die NATO heil. War die NATO so dumm, konnten die Generale wirklich nicht militärisch
wichtige Brücken von rein zivilen unterscheiden? Ich glaube das nicht. Man
wollte Zivilisten töten. Sonst hätte man ja auch nachts angreifen können. So
wie in Nachbar-Gemeinden. Für solche Fälle und zur Beruhigung der Bevölkerung
in den NATO-Staaten haben sie den verharmlosenden Begriff Kollateralschaden
erfunden.
Was Milosevic betrifft – es ging ihnen nie nur darum, den Präsidenten zu stürzen.
Sie wollten uns Serben bestrafen. Wofür? Vermutlich wissen sie nicht einmal
das. Sie haben eben zu viele Bomben, die müssen weg, damit die Industrie neue
bauen kann. Die konnte man dann gleich testen. Das brachte Profit und manchem
vielleicht auch einen neuen Arbeitsplatz.
Vesna Milenkovic
Daür haben sie mein Kind umgebracht. Und die Kinder anderer Leute. Und das
ganze Land zerstört. Sie fragen mich, ob ich jemals verzeihen könnte?! Fragen
Sie das wirklich? Es ist so einfach, die Serben sind an allem Schuld, an dem
Krieg in Kroatien, an dem in Bosnien und an dem, was in Kosovo geschah. Also
muss man diesen »schlimmen Serben« zeigen, wo ihr Platz ist. Ganz unten, ganz
geduckt, wollen sie uns sehen. Wie kann es sein, das an einem Krieg immer nur
die eine Seite schuld ist?! Ich sage auch nicht, alle Menschen aus Amerika, aus
Deutschland oder aus Österreich sind schuldig. Die haben keinen Einfluss auf
die Politik der Regierungen. Doch vielleicht sollten die Menschen in Amerika
oder Deutschland daran denken, dass ihnen auch urplötzlich Schreckliches
widerfahren kann. Als Krieg in Kroatien und in Bosnien war, dachte ich, wie gut,
dass es uns nicht trifft. Ich war bereit, alles dafür zu tun, dass es meine
Familie, mein Kind nicht trifft. Seit jenem 30. Mai spüre ich meinen Irrtum.
Momcilo Jevtic
Wie geht man um mit diesem Irrtum? Werden wir alles vergessen? Werden wir nun
ganz einfach zur Tagesordnung übergehen? Heilt Geld alle Wunden, die man
Jugoslawien geschlagen hat?
Zoran Milenkovic
Die Serben wurden durch die Türken fünf Jahrhunderte unterdrückt. Nach einer
gewissen Zeit haben sich die Serben in eine Zusammenarbeit mit den Türken
begeben. Die Serben haben gegen die deutschen Okkupanten im Ersten und Zweiten
Weltkrieg gekämpft. Nach dem Zweiten Weltkrieg fuhren unsere Menschen als
Gastarbeiter nach Deutschland. Und so funktioniert es wieder. Die Ökonomie
bestimmt das Verhältnis zwischen Staaten. Die Geschichte zeigt, dass man Opfer
sehr schnell vergisst, wenn man Hoffnungen setzt in die Zukunft. Das Schlimme
daran ist, dass weder wir noch das deutsche Volk aus dem, was wir erlitten,
lernen. Wir aus der Bombardierung genauso wenig wie das deutsche Volk aus dem
Irrsinn des Zweiten Weltkriegs. Wann endlich lernen auch die Politiker, dass
kollektive Bestrafung durch militärische Aktionen unmenschlich, verbrecherisch
sind?!
Predrag Milosevic
Auch um diesen Wahnsinn deutlich zu machen, sind wir nach Berlin gekommen.
Verstehen Sie, wir haben keinen Hass in uns gegen Deutschland. Wir wissen, dass
man wegen einer Minderheit nicht alle Deutschen verurteilen kann. Unter vielen Körnern
sind auch ein paar schlechte, sagt man bei uns. Ich will mich nicht äußern,
wen ich in Ihrem Lande dazu zähle. Wir hoffen, dass die deutsche Regierung auch
ohne Prozess Einsicht zeigt. Falls nicht, sind wir bereit, unsere Erlebnisse vor
deutschen Richtern zu wiederholen. Schließlich geht es um unsere Zukunft, um
die unserer Familien. Dass ein möglicher Prozess ziemlich langwierig sein kann,
wissen wir und natürlich auch, dass das, was uns angetan wurde, nicht mit Geld
aufgewogen werden kann. Krieg ist das Schlimmste und Bösartigste was Menschen
Menschen antun können. Das haben wir am eigenen Leib erfahren und müssen damit
leben – wenn Gott will.
Spendenkonto: Vereinigung demokratischer Juristen e. V.; Berliner Sparkasse,
BLZ: 100 500 00; Kto.: 33 52 20 14; Verwendungszweck: »Schadenersatz für
NATO-Kriegsopfer«
(ND 30.06.01)
Neues Deutschland
Ursprüngliche URL: http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=1373&IDC=2