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Richter sieht Verstoß gegen Völkerrecht
Opfer eines Nato-Angriffs in Kosovo fordern Schmerzensgeld
Überlebende eines Nato-Bombenangriffs auf die serbische Kleinstadt Varvarin während des Kosovo-Krieges verlangen Schmerzensgeld von der Bundesregierung. Im Juni will ein Kölner Gericht entscheiden.
VON INGRID MÜLLER-MÜNCH

Nato-Luftangriffe (FR-Infiografik)
Köln · 25. Februar · Ist die Bundesrepublik als Mitglied der Nato haftbar für Kriegsverbrechen, die andere Nato-Mitglieder verursachten ? Das ist eine der Fragen, denen derzeit das Kölner Oberlandesgericht in einer Berufungsverhandlung nachgeht. 35 Einwohner der Ortschaft Varvarin, Eltern und Verwandte von Toten, Überlebende, schwer traumatisierte Verletzte verklagen die Bundesrepublik auf Schmerzensgeld.

In erster Instanz hatte das Bonner Landgericht ihre Klage abgewiesen. Nun muss das Kölner Oberlandesgericht im Berufungsverfahren darüber befinden, ob durch den Angriff auf die Brücke über die Morawa Völkerrecht verletzt wurde, und ob hierfür die Bundesrepublik als Nato-Mitglied und Kriegsbeteiligte belangt werden kann.

Der Zeitpunkt des Angriff auf die Brücke hätte nicht ungünstiger sein können: Der 30. Mai 1999 war ein sonniger Tag, gegen 13 Uhr waren mehrere tausend Einwohner der jugoslawischen Kleinstadt Varvarin auf den Beinen. Im Umfeld der Brücke über die Morava hatten Händler an die 350 Marktstände aufgebaut. In der Kirche versammelten sich Gläubige zum Fest der Heiligen Dreifaltigkeit. Plötzlich zogen Kampfflugzeuge der Nato im Tiefflug über die friedliche Ortschaft. Die erste Rakete traf die Brücke und zerstörte sie völlig.

Panik brach aus. Fensterscheiben barsten. Unter den ersten Toten war die damals 15-jährige Sanja Milenkovic, die mit Freundinnen über die Brücke spazierte. Dutzende Anwohner eilten, um ihr und den anderen Verletzten zu helfen. Doch die Tiefflieger kamen wieder, insgesamt viermal fielen Bomben. Zehn Menschen starben, 30 Personen wurden teils schwer verletzt.

Deutschland habe den Luftangriff zwar nicht geflogen, argumentieren die Anwälte der Einwohner von Varvarin; welche Nationen beteiligt waren, ist unklar. Aus persönlichen Gründen - Kontakte nach Deutschland, juristische Unterstützung - haben die Kläger die Bundesrepublik ausgewählt, die ihrer Ansicht nach den Einsatz als einer der 19 Nato-Beteiligten an diesem Krieg mit zu verantworten hat.

In erster Instanz hat das Bonner Landgericht die Klage als unbegründet zurückgewiesen. Weder deutsches Recht noch internationale Verträge, so die Argumentation der Bonner Richter, böten Kriegsopfern einen Ansatz, individuelle Entschädigungsansprüche an gegnerische Länder zu stellen.

Während der Berufungsverhandlung vor dem Kölner Oberlandesgericht stellte Hans-Peter Prior, Vorsitzender Richter des 7. Zivilsenates, immer wieder entscheidende Fragen: "Was darf ein Krieg ? Hat ein Bürger das Recht, einen Staat für Kriegsverbrechen zu belangen ? Wenn ja, dann welchen Staat ?" Die Anwälte der Bundesregierung wehrten sich vehement dagegen, dass deutsche Gerichte über die Rechtsmäßigkeit des Nato-Einsatzes vom 30. Mai 1999 befinden sollen. Außerdem, so ihr Standpunkt, seien die Entscheidungen über die Angriffsziele während des Kosovo-Krieges nicht in Berlin, sondern in Brüssel bei der Nato gefällt worden. Aber, so die Kläger, an diesen Entscheidungen sei die Bundesregierung als Nato-Mitglied beteiligt gewesen. Und ein solcher Angriff auf ein ziviles Ziel verstoße gegen alle Regeln des Völkerrechts.

Richter Prior geht davon aus, dass die Brücke über die Morawa kein zufälliger Kolateralschaden war: "Es sollte dieses konkrete Objekt zerstört werden." Warum genau, kann er sich nicht erklären. Er sieht in dem Angriff eine "Häufung von Verstößen gegen das Völkerrecht". Es gab keine Warnung vor dem Angriff, Varvarin war ein unverteidigter Ort. Ob dies allerdings bedeute, das man die Bundesregierung hierfür verantwortlich machen könne, wollte der Zivilsenat sich noch offen halten. Erst am 16. Juni will er eine Entscheidung verkünden.



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Dokument erstellt am 25.02.2005 um 16:57:55 Uhr
Erscheinungsdatum 26.02.2005


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(28.02.2005)