15.10.2003

 

Ein Fall für die Rechtsgeschichte

Serbische Opfer eines Nato-Angriffs verlangen per Zivilklage von Deutschland Schadensersatz

 

Am Dreifaltigkeits-Tag kam der Krieg nach Varvarin. Während die Menschen in dem serbischen Städtchen ihr Kirchfest feierten, donnerten Kampfjets heran. Binnen Minuten feuerten sie zwei Mal auf eine Brücke am Ortsrand. „Vier Flugzeuge griffen zwischen 1101 und 1106 Zulu Time an und verwendeten dabei präzisionsgelenkte Waffen, die alle ihre vorgesehenen Ziele erfolgreich trafen“, vermeldete die Nato. Die wahre Bilanz des 30. Mai 1999: zehn tote und mehr als 30 verletzte Zivilisten. Nun findet ihr Fall seine Richter. Das Landgericht Bonn verhandelt am heutigen Mittwoch über eine Zivilklage serbischer Opfer und Opfer-Angehöriger. Ihre Forderung: Schadensersatz von Deutschland. „Es könnte ein Verfahren für die Rechtsgeschichte werden“, meint der Völkerrechtler Christoph Vedder.

 

 

Der Prozess ist juristisch so brisant, weil er in eine Umbruchphase des Völkerrechts fällt. Traditionell berechtigt und verpflichtet es nur Staaten untereinander, nicht aber deren Bürger. Doch nun ist alles im Fluss. „Das Völkerrecht geht dazu über, einzelne Täter strafrechtlich zu verfolgen und Opfer individuell zu schützen“, sagt Vedder. Im Strafrecht sind dabei das Jugoslawien-Tribunal und der Weltstrafgerichtshof die Schrittmacher. Im Zivilrecht könnte es das Landgericht Bonn werden. Gibt es den Klägern Recht, müssen sich die neuerdings wieder kriegerischen Demokratien auf eine Prozessflut einrichten. Auch zivile Opfer aus dem Irak oder Afghanistan werden dann vor Gericht ziehen. Damit es soweit kommt, müssten die Kläger in Bonn große rechtliche Hürden überwinden.

 

 

Dabei geht es weniger um die Frage, ob der Kosovo-Krieg insgesamt völkerrechtswidrig war. Entscheidend ist der konkrete Angriff auf die Brücke von Varvarin. Laut der Nato war sie ein „legitimes militärisches Ziel“. Die zivilen Opfer waren demnach unvermeidliche „Kollateralschäden“. In der Klageschrift heißt es dagegen: „Der gesamte Angriff war darauf ausgerichtet, Angst und Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten.“ Die Brücke sei in keiner Weise militärisch genutzt worden. Die Angreifer hätten daher gegen das Völkerrecht zum Schutz von Zivilisten verstoßen, wie es in den Haager und Genfer Konventionen festgesetzt ist. Als Folge hafte Deutschland den Opfern.

 

 

Die Bundesrepublik bestreitet dies vehement. Sie pocht auf den traditionellen völkerrechtlichen Standpunkt. Deutschland könnte demnach allenfalls von Jugoslawien zu Reparationszahlungen gezwungen werden, nicht aber von dessen Bürgern zu Schadensersatz. Zudem argumentiert Berlin: Selbst wenn der Angriff auf die Brücke rechtswidrig war, ist er Deutschland nicht zuzurechnen, da die Bombardements von anderen Nationen ausgeführt wurden. Die Kläger halten entgegen, die Angriffsziele seien von den Nato-Staaten gemeinsam festgelegt worden.

 

 

Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung könnte das Gericht heute einen Kompromissvorschlag machen. Das spräche dafür, dass es der Klage gewisse Aussichten einräumt. Die Bundesregierung will sich aber keinesfalls auf einen Vergleich einlassen. Ihr geht es darum, einen Präzedenzfall zu verhindern, der künftige Kampfeinsätze auch finanziell zu einem enormen Risiko werden ließe.

 

 

Stefan Ulrich

 

 

Ursprüngliche URL: http://www.sueddeutsche.de/sz/politik/red-artikel2143/