Vorwürfe
gegen die NATO sind fürs Haager Tribunal »nicht relevant«
Interview mit Prof. Dr. Norman Paech vor Beginn des Prozesses gegen Slobodan
Milosevic
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Rechts: Juni 1999: Nach den »nicht relevanten« NATO-Luftschlägen
gegen die Stadt Pancevo
Foto: Reuters |
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Heute wird vor dem Internationalen Straftribunal für das frühere
Jugoslawien (ICTY) in Den Haag der Prozess gegen den ehemaligen jugoslawischen
Präsidenten Slobodan Milosevic eröffnet. Die Debatte um Verantwortung und
Schuld für die Kriege auf dem Balkan wird wieder aufleben. Laut Statut ist das
ICTY zwar für alle in Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen zuständig, doch
sind die Ankläger bisher auffällig selektiv vorgegangen. ND befragte dazu den
Völker- und Verfassungsrechtler Norman Paech, der an der Hochschule für
Wirtschaft und Politik in Hamburg lehrt. Prof. Dr. Paech war Vorsitzender der
Jury des Europäischen Tribunals über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien.
Foto: A. Kirsch
ND: Wieso
hat das Haager Tribunal keine Ermittlungen gegen NATO-Militärs oder -Politiker
eingeleitet, obwohl es zahlreiche Hinweise gibt, dass diese gegen Völker- und
Kriegsrecht verstoßen haben?
Die Anklagebehörde in Den Haag hat sich durchaus mit den Vorwürfen
gegen die NATO beschäftigt. Es hat dort im Jahr 2000 eine Kommission gegeben,
die sich der Vorwürfe angenommen und ein 40-seitiges Papier ausgearbeitet hat.
Sie kam aber zu dem Schluss, dass alle Vorwürfe gegen die NATO als nicht
relevant und durchschlagend einzustufen seien. Das unterstützte die Weigerung
von Chefanklägerin Carla del Ponte, Recherchen zur NATO-Kriegsführung
anzustellen.
ND: Dabei gäbe es durchaus einiges zu untersuchen.
Wir müssen vielleicht folgende Punkte unterscheiden. Ein erster Punkt der
juristischen Argumentation gegen den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 betrifft
das so genannte jus ad bellum (Recht auf Krieg – d. Red.). Das heißt, dass es
keine völkerrechtliche Legitimation für den Krieg gab. Dieses kann vor einem
Strafgericht aber nicht zur Debatte stehen. Der zweite Punkt ist die Verletzung
des jus in bello (Recht im Krieg), die gerichtlich durchaus zu verhandeln wäre.
Hier gibt es eine Reihe von sicheren Hinweisen darauf, dass die NATO schwere Völkerrechtsverbrechen
begangen hat.
ND: Können Sie das konkretisieren?
Fangen wir bei den so genannten Kollateralschäden an. Immer wieder
haben NATO-Militärs und -Politiker gesagt, dass die Schädigung von Zivilisten
ein unerwünschter, aber unabdingbarer Nebeneffekt der Bombardierung von Militäranlagen
gewesen sei. Allerdings hat sich herausgestellt, dass es eine Reihe von Fällen
gab – und zwar nicht zu wenige –, in denen bewusst zivile Ziele, zivile
Objekte und Zivilpersonen, bombardiert wurden. Das ist nach dem Völkerrecht
eindeutig verboten. Derzeit wird im Fall der Bombardierung der Kleinstadt
Varvarin eine Klage vorbereitet. Dort wurde eine Brücke bombardiert, die kein
militärisches Ziel darstellte. Im Umkreis von 100 Kilometer um diese Ortschaft
im Norden Jugoslawiens gab es keine militärischen Ziele. Dieser Angriff, der
sehr viele Opfer unter der Zivilbevölkerung kostete, war eine ganz eindeutige
Verletzung des humanitären Völkerrechts. Die Verharmlosung als »Kollateralschaden«
ist eine Maskierung von Verbrechen, die vom Haager Tribunal hätte aufgegriffen
werden müssen.
ND: Gilt das auch für die Bombardierung der petrochemischen Anlagen in
Pancevo? Dort wurden, weit von Kosovo entfernt, eine Raffinerie und eine
PVC-Fabrik in Brand geschossen, was eine Umweltkatastrophe auslöste.
Das ist ein zweiter Punkt, der aber nicht so sehr das Problem »Kollateralschaden«
betrifft. Alle Installationen, die der Kriegsproduktion dienen, also
Munitionsfabriken etc., sind nach dem Völkerrecht »legitime Kriegsziele« –
wenn denn der Krieg überhaupt legitim ist, was er aus meiner Sicht nicht war.
1977 wurde es verboten, Fabriken und Industrieanlagen zu bombardieren, deren
Zerstörung gravierende Umweltschäden hervorruft. Das Werk in Pancevo diente
ganz offensichtlich nicht einmal der Kriegsproduktion. Durch seine Bombardierung
sind sehr viele Chemikalien und Abwässer in die Donau geflossen und haben
verheerende Umweltschäden angerichtet. Eine solche Bombardierung ist verboten.
Die Ratio des humanitären Völkerrechts ist es, bei Kriegen Schäden zu
vermeiden, die gegenüber dem Kriegsziel unverhältnismäßig die Zivilbevölkerung
in Mitleidenschaft ziehen. Dazu gehören Chemie- oder auch Elektrizitätswerke,
wenn sie nicht der Kriegsführung dienen. Aber selbst falls sie der Kriegsführung
dienen, dürfen solche Industrieanlagen nicht angegriffen werden, wenn die zu
erwartenden Schäden unverhältnismäßig sind. Man stelle sich die
Bombardierung von Atomkraftwerken oder Deichen vor! Die Zerstörung der Fabriken
von Pancevo durch die NATO verstößt doppelt gegen das Völkerrecht. Erstens
dienten sie nicht der Kriegsproduktion, zweitens lösten die Angriffe schwere
Umweltschäden aus.
ND: Im Zusammenhang mit dem Afghanistan-Krieg wird derzeit auch wieder
über die Verwendung bestimmter Munitionsarten und Waffensysteme diskutiert. Das
Abwerfen von Streubomben, die noch in der Luft explodieren und eine große
Anzahl kleinerer Sprengkörpen über eine große Fläche verteilen, wird von
Kritikern als kriegsrechtswidrig betrachtet. Diese Bomben wurden auch über
Kosovo abgeworfen. Wie schätzen Sie deren Verwendung durch die NATO-Luftwaffe
ein?
Das ist eine dritte Kategorie von Verboten. Die Staaten sind von der
ursprünglichen Intention, in den großen Konventionen einzelne Waffen zu
verbieten, zum Verbot von Waffenwirkungen übergegangen. Der Grund dafür ist,
dass das Völkerrecht, die Politik und die Diplomatie der rasanten Entwicklung
der Waffensysteme nicht folgen konnten und mit dem Verbot ständig neuer Waffen
hinterher hinkten. Daher werden Waffen heute nach ihrer Wirkung qualifiziert.
Die in Afghanistan und Kosovo eingesetzten Streubomben haben den Effekt von
Landminen. Viele der Sprengkörper explodieren nicht sofort, sondern bleiben
liegen. Wenn sie von Zivilisten berührt werden, können sie explodieren und
schwere Schäden hervorrufen. Derartige Wirkungen machen Streubomben nach den
Kriterien des Genfer Kriegsrechts völkerrechtswidrig. Allerdings ist es auf der
jüngsten Überprüfungskonferenz für konventionelle Waffen im Dezember 2001 in
Genf, die sich auch mit diesen Clusterbomben beschäftigte, nicht gelungen, sie
wie die Landminen ausdrücklich zu illegalisieren. Das Thema wurde verschoben.
ND: Mitte Dezember hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
in Strasbourg eine Klage von sechs Beschäftigten des Belgrader Fernsehsenders
RTS zurückgewiesen. Das RTS-Gebäude wurde am 23. April 1999 von einer
NATO-Rakete zerstört. Dabei starben 16 Mitarbeiter. Die RTS-Angestellten hatten
gegen 17 NATO-Staaten geklagt, die die Europäische Menschenrechtskonvention
ratifiziert haben. Die Konvention sei »nicht überall auf der Welt anwendbar«,
sagten die Strasbourger Richter. Jugoslawien sei nicht Mitglied des Europarats
und zähle nicht zu den Unterzeichnern der Konvention. Wie beurteilen Sie die
Bombardierung von RTS völkerrechtlich?
Die NATO und ihre Politiker argumentieren immer, RTS sei ein Sender
gewesen, der in der Infrastruktur der Kriegsführung eine Rolle gespielt habe.
Das ist falsch. Alle Beweise, die derzeit vorliegen, belegen, dass dieser Sender
keine Militärfunktion hatte. Er hatte eine Propagandafunktion und verbreitete
wahrscheinlich nicht mehr und nicht weniger Falschmeldungen als die
NATO-Propaganda. Es war offensichtlich das Ziel der Bombardierung, die
Propagandafunktion und die Sendung von Nachrichten zu unterbinden. Das jedoch
ist kein legitimes Mittel der Kriegsführung. RTS hatte das Recht, über den
Krieg zu berichten. Es war nicht erlaubt, den Sender zu bombardieren.
ND: Mit Blick auf den Einsatz der Bundeswehr im Jugoslawienkrieg
argumentieren verschiedene Juristen, dass dieser gegen die Verfassung verstieß.
Wie schätzen Sie diesen Komplex ein?
Nach dem Grundgesetz kann die Bundeswehr nur zur
Territorialverteidigung eingesetzt werden. 1954/55 wurde das erweitert auf eine
territoriale Verteidigung des NATO-Bündnisgebietes. Später wurde das über
Artikel 24 auf den Einsatz im Rahmen der UNO ausgeweitet. Das würde sich
allerdings nur auf mandatierte UN-Einsätze nach Artikel 39/42 der UN-Charta
beziehen. Ein solcher war der Jugoslawienkrieg aber nicht. Auch eine »kollektive
Selbstverteidigung« nach Artikel 51 der UN-Charta kommt nicht in Betracht, weil
Jugoslawien nicht angegriffen hatte. Insofern fehlt eine internationale
Legitimation, die einen Einsatz der Bundeswehr grundgesetzlich gerechtfertigt hätte.
Deshalb hat man so krampfhaft nach der Begründung einer »humanitären
Intervention« gefischt. Eine derartige »humanitäre Intervention« kommt im
klassischen Völkerrecht heutiger Zeit gar nicht vor. Es handelt sich vielmehr
um einen Rückgriff auf Fälle des 19. Jahrhunderts. Sie sind jedoch aus dem
Arsenal des Völkerrechts gestrichen worden, weil man sich bewusst war, dass
immer, wenn man zur »humanitären Intervention« griff, dies nur eine
Maskierung eigener Interessen und Kriegsführung darstellte. Das heißt: Es gab
letztendlich keine völkerrechtliche Legitimation für den Jugoslawienkrieg, und
ohne eine solche erlaubt das Grundgesetz keinen Einsatz der Bundeswehr.
Interessanterweise hat das Bundesverfassungsgericht kürzlich in dem Urteil über
die Organklage der PDS zur NATO-Strategie darauf hingewiesen, dass bei einem nächsten
Beschluss zu einem Einsatz der Bundeswehr klar sein muss: Es gilt das absolute
Gewaltverbot des Artikels 2 Ziffer 4 der UN-Charta mit nur drei Ausnahmen: durch
ein Mandat der UN, durch Artikel 51 – also Selbstverteidigung – oder auf
Wunsch eines Staates, was auf so genannte Peacekeeping-Einsätze der UNO
abzielt. Das kann man durchaus als eine nachträgliche Ohrfeige für den Angriff
auf Jugoslawien ansehen, da hier keiner dieser drei Fälle vorlag. Nimmt man
dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts genau, so gab es keine Legitimation
für den Einsatz im Frühjahr 1999.
ND: Zurück zum Haager Tribunal. Wenn man sich die Reihe der NATO-Verstöße
gegen das humanitäre Völkerrecht anschaut, stellt sich die Frage, warum sich
das Tribunal weigert, wenigstens Ermittlungen aufzunehmen. Hier kann man
eigentlich nur noch politische und nicht juristische Motive vermuten.
Das Tribunal in Den Haag ist in seiner Konstruktion und in seiner Führung
zu einem politischen Instrument mutiert. Das Tribunal ist vom UN-Sicherheitsrat
als ein Sanktionsmittel auf der Basis des Artikels 42 der UN-Charta geschaffen
worden. So wird es benutzt. Der Charakter eines fairen, alle Seiten gleich
behandelnden Gerichtes ist ihm dabei völlig abhanden gekommen. Eine offizielle
Untersuchung der NATO-Kriegsführung würde zu ihrer Delegitimierung führen müssen.
Man ist sich ja durchaus bewusst, dass nicht alles so abgelaufen ist, wie es das
humanitäre Völkerrecht verlangt – das man nun als Maßstab angelegt, um den
Charakter des Milosevic-Regimes zu bewerten. Den Haag hat eine klare politische
Mission. Das Tribunal kann nicht nachträglich ein Gerüst demontieren, an
dessen Konstruktion man so mühsam gearbeitet hat.
Interview: Boris Kanzleiter
(ND 12.02.02)
Neues Deutschland
Ursprünglicher
URL: http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=12541&IDC=2