Die Brücke von Varvarin (Aus Ossietzky)
Von Ulrich Dost
Ein Ziel des Bombenkriegs gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, den die NATO-Staaten vor zwei Jahren begannen, war die Kleinstadt Varvarin. Die serbische Stadt mit 4000 Einwohnern liegt etwa 200 Kilometer südlich von Belgrad und weitere 200 Kilometer entfernt von der Grenze zum Kosovo. Kleine Handwerksbetriebe und Dienstleistungseinrichtungen sind dort angesiedelt, die meisten Einwohner der Stadt arbeiten, wie auch die Einwohner der umliegenden Dörfer, in der Landwirtschaft. Nennenswerte Industriebetriebe gibt es weit und breit nicht, auch keine militärischen Einrichtungen, die Stadt wurde auch zu keinem Zeitpunkt des Krieges von militärischen Transporten berührt. Varvarin hat lediglich eine Polizeistation, in der drei Polizisten ihren Dienst versehen.
Vom Bürgerkrieg in Jugoslawien blieb die Kleinstadt verschont. Auch nachdem die NATO im März 1999 mit der Bombardierung Jugoslawiens begonnen hatten, waren in Varvarin keine unmittelbaren Kriegsauswirkungen zu spüren. Die Einwohner fühlten sich verhältnismäßig sicher, mit der Bombardierung ihrer unbedeutenden Kleinstadt rechneten sie nicht, das Leben ging seinen gewohnten Gang.
Zum Leben der Stadt Varvarin gehört seit jeher der allsonntägliche Markt, auf dem die Bauern, Handwerker und Händler der Region ihre Waren feilbieten.
Auch am Pfingstsonntag, dem 30. Mai 1999, war Marktbetrieb, als kurz nach 13 Uhr drei Kampfflugzeuge der NATO über Varvarin erschienen und die Brücke über die Morava zerstörten. Die etwa 200 Meter lange Brücke ist der Zugang zur Stadt. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich auf der Brücke drei Personenautos und viele Fußgänger und Radfahrer, die vom Markt kamen oder noch hinwollten oder einfach nur das schöne Pfingstwetter für einen Spaziergang nutzten.
Die NATO-Kampfflugzeuge ließen den Menschen auf der Brücke keine Chance: Wenige Sekunden, nachdem sie über der Stadt erschienen waren, löste sich eine Maschine aus dem Konvoi, flog die Brücke an und feuerte eine Rakete ab, die den Mittelpfeiler traf, worauf die Brücke mit den Menschen und Fahrzeugen in den Fluß stürzte. Unter den Hunderten von Menschen auf dem Markt unweit der Brücke brach Panik aus. Einige kamen schnell, um die Opfer zu bergen. Im Wasser und am Ufer lagen Tote und Schwerverletzte mit abgerissenen Gliedmaßen und anderen entsetzlichen Verletzungen.
Die Flugzeuge hatten nach dem ersten Raketenabschuß zunächst abgedreht, und die Rettungsarbeiten hatten gerade begonnen, als wenige Minuten nach dem ersten Angriff – für die Menschen an der Brücke völlig unerwartet – ein Flugzeug nun von der anderen Seite her anflog und zwei weitere Raketen auf die schon zerstörte Brücke abfeuerte. Wieder gab es Verletzte und Tote. Insgesamt kamen bei dem Luftangriff zehn Menschen ums Leben, weitere 16 wurden schwer verletzt.
Das jüngste Todesopfer war die damals fünfzehnjährige Schülerin Sanja Milenkovic, ein hübsches, lebensfrohes, hochbegabtes Mädchen, Teilnehmerin landesweiter Mathematik- und Chemie-Wettbewerbe. Zum Zeitpunkt des Angriffs befand sie sich mit zwei gleichaltrigen Freundinnen auf der Brücke. Eine der beiden, die Schülerin Marina Jovanovic, berichtet: Mit Sanja Milenkovic und Marijana Stojanovic kam sie vom Markt zurück. Als sie etwa die Mitte der Brücke erreicht hatten, hörten sie plötzlich Flugzeuge. Etwa drei Sekunden später detonierte eine Rakete. Die Brücke stürzte ein. Die drei Mädchen blieben an den Stahlträgern hängen. Es erhob sich eine riesige Staubwolke, Marina behielt die Farbe Orange in Erinnerung: "Ich weiß nicht warum, wahrscheinlich habe ich eine Hitze gespürt, ich dachte, daß ich verkohlt wäre, daß ich brenne. Als ich wieder zu Bewußtsein kam, fragte ich Marijana, ob wir das nur träumen. Ich kann heute immer noch nicht fassen, daß ich überlebt habe... Ein paar Minuten später folgte der zweite Angriff." Sanja hatte nach dem ersten ihr Bewußtsein nicht wiedererlangt.
Slobodan Ivanovic schildert, wie er seine Hand verlor: "Am Sonntag war ich zu der Zeit, als die Bombe explodierte, mitten in der Stadt. Wie andere Bürger bin auch ich zur Brücke gelaufen. Als ich näher kam (etwa 30 Meter), sah ich Menschen, die um Hilfe schrien. Ich und noch ein paar von uns begannen, einen der Menschen aus dem Wasser zu ziehen. Als ich ihn etwa zwei Meter herausgezogen hatte, knallte es zum zweitenmal. Ich ließ den anderen, so gebeugt wie ich war, fallen und fiel selber. Im rechten Bein traf mich ein Granatsplitter. Als ich aufstand, merkte ich zunächst nicht, daß meine rechte Hand abgerissen war. Es vergingen etwa fünf Minuten, niemand hatte (nach dem zweiten Angriff) zunächst den Mut, sich uns zu nähern. Ich schaute um mich und sah viele Menschen liegen. Einige riefen um Hilfe, andere waren schon tot... "
Die jugoslawischen Behörden haben die Zeugen vernommen. Ich selber habe den Ort vor einigen Wochen besucht und ebenfalls Zeugen befragt. Für mich stellt sich der Fall so dar: Mit dem Luftangriff auf Varvarin haben sich die NATO-Staaten eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht. Sie haben gegen die Regeln des Kriegsrechts verstoßen, die in der Haager Landkriegsordnung, der Genfer Konvention und in den Zusatzprotokollen zu dem Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte enthalten und völkerrechtlich bindend sind. Im vorliegenden Falle haben sie insbesondere die Regeln des Zusatzprotokolls I vom 8. Juni 1977 verletzt, die klare völkerrechtliche Normen zum Schutz der von bewaffneten Konflikten betroffenen Personen enthalten. In Artikel 35 Abs. 1 des Zusatzprotokolls ist geregelt, daß die an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegführung haben. Ausgehend von dieser Grundregel verbietet Abs. 2 die Anwendung von Methoden der Kriegführung, "die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen". Für mich steht fest, daß die NATO Staaten in Varvarin die Zivilbevölkerung zum Ziel ihres Angriffs gemacht haben, um Schrecken und Angst zu verbreiten. Damit haben sie gegen Art. 51 Abs. 2 des Zusatzprotokolls I verstoßen, der verbietet, "die Zivilbevölkerung als solche (oder) einzelne Zivilpersonen (zum) Ziel von Angriffen (zu machen)". Ausdrücklich verbietet diese Regelung die "Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten". Auch die Zerstörung der Brücke stellt einen Rechtsbruch durch die NATO-Staaten dar. Art. 52 Abs. 2 des Zusatzprotokolls I gebietet, "Angriffe "streng auf militärische Ziele zu beschränken", und definiert, welche Ziele als militärische gelten dürfen. Die Brücke von Varvarin war kein militärisches Ziel. NATO-Sprecher Jamie Shea sagte die Unwahrheit, als er im Juni 1999, von Journalisten angesprochen, behauptete, die Brücke sei ein legitimes militärisches Ziel gewesen.
Ist der Angriff auf die Brücke in Varvarin an sich schon als heimtückisch, perfide und verbrecherisch zu werten, so gilt das erst recht für den jede Menschlichkeit verhöhnenden Entschluß, die schon zerschossene Brücke noch ein zweites Mal anzugreifen, als die Rettungsarbeiten im Gange waren.
"Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen", hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder am 24. März 1999 gesagt, "heute abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen..." Und er fügte hinzu, die NATO Staaten führten keinen Krieg gegen das jugoslawische Volk. Im April 1999 rühmte sich der deutsche Außenminister Josef Fischer: "Wir führen keinen Krieg, wir leisten Widerstand, verteidigen Menschenrechte, Freiheit und Demokratie." Nach meinen Untersuchungen ist der Fall Varvarin keine Ausnahme. Alles deutet darauf hin, daß die Mehrzahl der Luftangriffe der NATO Staaten gezielt gegen die Zivilbevölkerung und auf die Zerstörung der Infrastruktur der Bundesrepublik Jugoslawien gerichtet war. Die Behauptung, zivile Schäden seien nur unvermeidliche "Kollateralschäden" gewesen, erweist sich als eine der großen Lügen der NATO in diesem Krieg. Die Brücke von Varvarin ist dafür ein unwiderlegliches Beispiel.
Unser Autor Rechtsanwalt Ulrich Dost will namens der Verletzten und Hinterbliebenen des Angriffs auf die Brücke von Varvarin Schadenersatzklage erheben. Die klagenden Opfer werden die Prozeßkosten nicht selber tragen können. Deswegen wurde ein Spendenkonto eröffnet: Berliner Bank, Kontonummer 3375 4246 013, Bankleitzahl 100 900 00, Verwendungszweck "Schadenersatz für NATO-Kriegsopfer".