NATO-Opfer klagen in Strasbourg
Bombardierung des Belgrader Fernsehgebäudes vor Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte 
 
Von Martin Schwarz, Wien 
 
Mehr als zwei Jahre nach dem Kosovo-Krieg könnte nun erstmals die Kriegführung der NATO Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sein. Der britische Anwalt Tony Fisher hat im Namen von fünf Familien der bei einem Angriff auf das Belgrader Fernsehgebäude getöteten Zivilisten Klage in Strasbourg erhoben.  

Mehrmals schon waren Versuche gescheitert, die NATO-Führungsriege wegen der Bombardierung ziviler Ziele auf die Anklagebank des Haager Kriegsverbrechertribunals zu bringen. Immer wieder folgte das Tribunal der Argumentation der Allianz, bei den getöteten Zivilisten habe es sich schlicht um »Kollateralschäden« gehandelt. Doch nun scheint der britische Anwalt eine juristische Nische gefunden zu haben, um wenigstens die Bombardierung des Gebäudes des serbischen Fernsehens (RTS) am 23. April 1999 zum Gegenstand eines Gerichtsverfahrens zu machen. Nicht aber das Haager Tribunal wird das Bombardement mit 16 Toten verhandeln, sondern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg.

Die Angehörigen der Opfer und ihr Anwalt Fisher werfen der NATO vor, gegen mehrere Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen zu haben. Alle 17 europäischen NATO-Staaten sind Unterzeichner der Konvention, die USA und Kanada jedoch nicht, weshalb sie sich nicht vor Gericht verantworten müssen. Fisher will bei seiner Klage zwei Artikel der Konvention zur Anwendung bringen: Die Unterzeichner haben sich nach Artikel 2 verpflichtet, ziviles Leben zu schützen und diese Verpflichtung gebrochen, weil sie wussten, dass sich Zivilisten in dem Gebäude befanden. Gleichzeitig bezweifelt Fisher in seiner Klageschrift, ob das Fernsehgebäude überhaupt ein legitimes Ziel und die Bombardierung »absolut notwendig« war. Schließlich werfen die Kläger der NATO vor, gegen das in Artikel 10 festgeschriebene Recht der Bürger auf Information und Meinungsfreiheit verstoßen zu haben, weil es sich ja um einen Fernsehsender handelte.

Insgesamt beläuft sich die Klagesumme auf umgerechnet rund 1,3 Millionen Mark, doch noch wichtiger als die finanzielle Entschädigung der Angehörigen ist die Chance, dass eine Verurteilung Präzedenzfall für weitere Anklagen sein und die künftige Kriegführung der NATO beeinflussen könnte. »Wenn das Gericht unsere Klage zulässt, wird das weitreichende Auswirkungen auf die Planung weiterer Militärschläge im Stil des Kosovo-Krieges haben«, so Tony Fisher gegenüber ND. Doch einfach wird es nicht: Die Anwälte der beklagten Staaten werden mit allen Mitteln versuchen, die Klage abzuschmettern, denn sie haben viel mehr zu verlieren als die vergleichsweise bescheidenen 1,3 Millionen Mark. »Wir werden eine weitreichende Untersuchung jener politischen Entscheidungsprozesse verlangen, die zur Bombardierung ziviler Ziele während des gesamten Krieges geführt haben«, sagt Anwalt Fisher. Durchaus möglich, dass sich als Folge dieser Untersuchungen auch das Haager Tribunal mit der Materie befassen muss – bisher waren die diesbezüglichen Untersuchungen des Tribunals eher stockend.

Die Bombardierung des Fernsehsenders basiert auf einer ziemlich schwachen Argumentation der NATO: »Das serbische Fernsehen ist die Propagandamaschine des Milosevic-Regimes«, meinte damals NATO-Sprecher Jamie Shea. Damit hatte er sicher nicht unrecht, doch fraglich bleibt, ob das ein Bombardement juristisch rechtfertigt. Interessant wird das Verfahren auch, weil bislang ungeklärt ist, wie viel die serbische Führung vorher vom Bombardement wusste. Fest steht, dass Goran Matic, damals Minister ohne Portefeuille, schon am 19. April eine Pressekonferenz gab und meinte, das Gebäude würde »morgen bombardiert«. Er irrte um drei Tage. Auch das Belgrader CNN-Büro erhielt schon am 19. April eine entsprechende Warnung der NATO. Doch auch wenn es Vorwarnungen gegeben hat und die serbische Führung tatsächlich den Tod mehrerer Zivilisten einkalkulierte, entbindet das die NATO nicht von ihrer Verantwortung, Zivilisten geopfert zu haben, um den PR-Krieg gegen Milosevic zu gewinnen.

(ND 08.09.01)

Neues Deutschland

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