Die Brücke von Varvarin

Im Kosovo-Krieg zerstörten Nato-Raketen das Bauwerk, serbische Zivilisten starben; ein Berliner Anwalt vertritt die Opfer

Von André Mielke

1999. Die Brücke, die bei Varvarin über den Fluss Marova führt, ist von Waffen der Nato zerstört worden.
Foto: dpa/Stankovic

Manchmal geht Dost in den Wald und schießt auf Tiere. Deshalb fällt ihm jetzt dieser Vergleich ein, obwohl er ihn augenblicklich abwegig findet. «Jeder Jäger muss darauf achten, dass da ein Wildschwein steht und kein Mensch», sagt Dost. «Wenn er das nicht tut, dann hat er Pech gehabt.» Noch mehr Pech hat nur derjenige, der da gerade kein Wildschwein ist.

Weil Keiler im Allgemeinen nicht zurückschießen, ist die Pirsch eine entspannte Angelegenheit, zumindest für den Jäger. Man kann sich vorsehen und an die Gesetze halten. Aber in dieser Geschichte geht es um Krieg. Selbst für solch eine Elementargewalt hat der Mensch sich Regeln ausgedacht, und Dost kennt sie mittlerweile so gut wie das Jagdrecht: Auf die Haager Landkriegsordnung folgten die Genfer Konventionen und in den 70er-Jahren einige Zusatzprotokolle. Danach sind Soldaten, um im schiefen Bild zu bleiben, bewaffnete Wildschweine. Man darf sie zur Strecke bringen, aber ihnen nicht ohne Not weh tun. Sie dürfen allerdings zurückschießen, aber Unbeteiligte nicht gefährden. Nach Möglichkeit. Wobei das mit den Möglichkeiten so eine Sache ist. Seit es das Kriegsrecht gibt, gab es wohl noch keine Kriegspartei, die sich daran gehalten hätte. Keinen Krieg ohne Kriegsverbrechen. Wenn man es streng juristisch betrachtet, ist jeder Krieg ein Verbrechen in Permanenz.

Vielleicht hat Gerhard Schröder daran gedacht, als er am 24. März 1999, dem ersten Tag der alliierten Kampagne gegen Jugoslawien, verkündete: «Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.» - Als könne derjenige keine Kriegsverbrechen begehen, der erklärt, keinen Krieg zu führen, sondern ein Irgendwas mit edlen Absichten und lasergelenkten Raketen.

Ulrich Dost fährt jetzt schon zum dritten Mal nach Varvarin. Das ist ein kleiner Ort in der Mitte Serbiens, gleich weit von Belgrad wie vom Kosovo entfernt. Dort gibt es eine Brücke, und auf die ließen am 30. Mai 1999 Nato-Kampfflugzeuge Bomben fallen. Erst eine, ein paar Minuten später zwei weitere. In diesem Augenblick waren keine Wildschweine auf der Brücke, sondern Menschen. Zehn davon kamen ums Leben, sechzehn wurden schwer verletzt. Allesamt Zivilisten und unbewaffnet. Einer hatte wohl eine Angelrute dabei.

Dost will dort unten noch einmal Zeugen hören, dreißig Leute, vielleicht auch fünfzig. Es geht nur noch um Details. Der Anwalt vertritt eine Schadenersatzklage von Opfern gegen die Bundesrepublik Deutschland. Es spielt dabei keine Rolle, dass es wahrscheinlich amerikanische oder britische Jets waren. Man hätte die Angelegenheit auch auf Island oder in Ungarn vor Gericht bringen können. «Die Nato-Staaten haften nach außen hin gesamtschuldnerisch», erläutert Dost. In Kanada sei diesbezüglich bereits eine 50-Millionen-Dollar-Klage zugelassen worden. In Deutschland könne man nicht mit solchen Summen hantieren, aber seinen Mandanten ginge es ohnehin mehr um Sühne.

Es war nicht so, dass ein paar Serben sich in den Gelben Seiten einen Berliner Anwalt gesucht hätten. Dost war Ankläger bei einem Tribunal, das im vergangenen Jahr in Berlin die Führer der westlichen Welt wegen der Nato-Luftangriffe zahlreicher Rechtsbrüche für schuldig befand. Eine symbolische und auch hilflose Veranstaltung. Mag sein, dass Clinton und Blair darüber gelächelt haben, wenn sie denn überhaupt davon erfuhren.

Für Dost aber war das ein Erfolg, wenn auch nicht unbedingt ein juristischer. Er geht zwar davon aus, dass die Luftangriffe unter anderem gegen Grundgesetz, Nato-Vertrag und UN-Charta verstießen, aber das ist Wissen ohne Wert, solange die Bundesanwaltschaft sich kategorisch weigert, gegen die verantwortlichen deutschen Politiker wegen «Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges» auch nur zu ermitteln.

Also hat Dost den großen Hammer erst einmal beiseite gelegt und aus der straf- eine zivilrechtliche Angelegenheit gemacht, «unabhängig davon, ob das nun ein Aggressionskrieg war oder eine humanitäre Intervention». Auf den ersten Blick geht es jetzt nur um Entschädigung. Wie nach einem Auffahrunfall mit Blechschaden.

Beim zweiten Hinsehen ist es ein Präzedenzfall. Es war der erste Krieg der Bundesrepublik. Deshalb trägt die Sache für ihn auch die Überschrift «Projektvorhaben». Dost möchte beweisen, dass die Nato bei ihren Angriffen gegen geltendes Kriegsrecht verstoßen hat. Er will deutlich machen, dass diese Normen mindestens genauso verbindlich sind wie die Straßenverkehrsordnung. Er strebt einen Musterprozeß an und eine Sanktionierung, die vor Wiederholungen abschrecken soll.

Das ist ziemlich viel, und der Anwalt läuft Gefahr, darüber seine Kanzlei zu ruinieren. Es gibt ein paar Verbündete und auch Sponsoren. Einer hat dafür bereits sein Grundstück verpfändet.

Dost hat ein Informationsblatt zusammengestellt, in dem er den Sachverhalt kurz darstellt und schildert, dass es auch eine fünfzehnjährige Schülerin getroffen hat: Sanja, das Mathe-Genie. Dazu Fotos von zerfetzten Leibern. Ein Mann liegt buchstäblich neben sich. Solche Aufnahmen haben immer ein aufklärerisches und ein demagogisches Potenzial. Sie zeigen alles und belegen nichts, mal abgesehen vom Know-how der Waffenentwickler.

Aber sie zwingen zu Antworten. Aus Brüssel war nach dem Angriff lediglich das Stereotyp «Kollateralschaden» zu vernehmen: Shit happens. Ansonsten sei die Brücke selbstverständlich ein «legitimes militärisches Ziel» gewesen.

Was legitime militärische Ziele sind, das entscheiden allerdings nicht diejenigen, die sie beschießen. Das definiert Artikel 52 (2) des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen als «Objekte, die (...) wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren gänzliche oder teilweise Zerstörung (...) einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt.» Dost sagt, es gäbe nicht einen Beleg dafür, dass die Brücke durch die jugoslawische Armee als Transportweg, als Nachschublinie genutzt wurde oder für solche Zwecke vorgesehen war.

Hinzu kommt, dass Artikel 51 (5) des besagten Protokolls jeden Angriff verbietet, «bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte (...) verursacht, die in keinem Verhältnis zum (...) militärischen Vorteil stehen.» Es war Sonntagmittag. Markttag. Hinter der Brücke begannen die Verkaufsstände. Dost geht von Vorsatz aus, und selbst bei wohlwollenderer Betrachtung muss man annehmen, dass die Angreifer zivile Opfer damals billigend in Kauf nahmen. Es war ja Krieg.

Als alles begann, sagte Gerhard Schröder: «Die Militäraktion richtet sich nicht gegen das serbische Volk. (...) Wir werden alles tun, um Verluste unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden.» Vielleicht hat der Bundeskanzler angenommen, dass Krieg so funktioniert. Das heißt, als er merkte, dass es Krieg und nicht nur eine «Militäraktion» war. Es gab eine Reihe von Leuten, erinnert sei nur an die grüne «Wehrexpertin» Angelika Beer, die anfangs geglaubt haben müssen, dass jede der vielen hochintelligenten Bomben einen Tschetnik trifft, der sich, das Messer zwischen den Zähnen, gerade über eine albanische Witwe hermacht. Leute, von denen niemand auf den Einfall gekommen wäre, dass man absichtlich ein Belgrader Heizwerk zerstören würde, um - auf dem Umweg über ausgekühlte Wohnungen - das Völkerrecht durchzusetzen. Zumal das Völkerrecht in Gestalt von Artikel 51 (2) des Zusatzprotokolls vorschreibt: «Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen dürfen das Ziel von Angriffen sein. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten.»

Das serbische Militär vertrieb die Albaner und beging am Boden schwerste Kriegsverbrechen. Die Nato konnte das nicht verhindern, jedenfalls nicht aus der Luft, und bombardierte stellvertretend militärische Infrastruktur, und als diese zur Neige ging, widmete man sich immer öfter eindeutig zivilen Objekten. Man konnte nicht einfach aufhören. Dann hätte man ja gar nicht erst anzufangen brauchen.

Wenn Kidnapper nervös werden, fangen sie an, Geiseln zu erschießen oder abgeschnittene Ohren zu verschicken. Wenn Militärs hibbelig werden, erweitern sie ihre Optionen. Zum Beispiel auf dieses Bürohochhaus mitten in Belgrad, wo sich unter anderem die Büros von Milosevics Partei befanden. Oder auf das Gebäude des serbischen Fernsehens.

«Unrecht beseitige ich nicht durch neues Unrecht», sagt Dost. Für viele Militärs dürfte das ein Schönwetterspruch sein: Wer sich im Krieg felsenfest an die Regeln hält, der hätte ja gleich am Verhandlungstisch sitzen bleiben können.

Alles deutet darauf hin, dass schon das Wort Kriegsrecht ein Widerspruch in sich ist. Nato-Sprecher Jamie Shea sagte in einer seiner berühmten Pressekonferenzen: «Der Sieg über das Böse hat immer einen Preis. Aber wenn man ein großes Übel nicht besiegt, wird der Preis noch höher sein.» Wo gehobelt wird, fallen Späne. William Pfaff, Kolumnist der International Herald Tribune, wurde damals direkter: «Die Serben haben Milosevic gewählt, sollen sie doch etwas von dem Leid zu spüren bekommen, das er über ihre Nachbarn gebracht hat.» Das war roh, aber auch konsequent und ehrlich: «Wir führen keinen Krieg gegen das serbische Volk. Warum eigentlich nicht?» Kann sein, dass der Mann keine Ahnung vom Kriegsrecht hatte, aber er wusste mit Sicherheit, dass das auch egal ist, weil das Kriegsrecht nur dann eine Rolle spielt, wenn man am Ende auf der falschen Seite steht.

Das lässt sich gut am Beispiel des Zweiten Weltkrieg studieren, als kein Tribunal sich mit den Massenvergewaltigungen durch sowjetische Soldaten oder mit der Bombardierung deutscher Innenstädte beschäftigte. Mit Aktionen, die von vornherein ausschließlich auf Zivilisten zielten und nach Geist und Buchstaben der Haager Landkriegsordnung nichts anderes waren als Kriegsverbrechen. Ganz zu schweigen von den Hunderttausenden Toten von Hiroshima und Nagasaki, die kein ordentliches Gericht je als Opfer eines kaltblütigen Massenmordes anerkannte. Es war eben Krieg, ein sehr großer und ein gerechter Krieg.

Ende des Sommers will Dost seine Klage beim Berliner Landgericht einreichen. Er gibt sich zuversichtlich; er sieht Artikel 91 des Zusatzprotokolls I auf seiner Seite: «Eine am Konflikt beteiligte Partei, welche die Abkommen oder dieses Protokoll verletzt, ist gegebenenfalls zum Schadenersatz verpflichtet.» Wenn korrekt verhandelt würde, findet Dost, müsste die Sache glatt durchgehen. Eigentlich. Und schließlich «verteidigen wir auch unsere gemeinsamen grundlegenden Werte von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Werte, nur eine Flugstunde von uns entfernt, mit Füßen getreten werden.» Letztere Sentenz ist nicht von Dost, sondern von einem Anwaltskollegen - Gerhard Schröder.

17. April 2001

Berliner Morgenpost

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