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Und der Minister starrt und stiert
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1999 zog die Bundesrepublik zum ersten Mal in den Krieg - unter Bruch des Grundgesetzes und des Völkerrechts. Arno Luik über eine ARD-Dokumentation, die zeigt: Die Regierung hat im Kosovokrieg ihre Bürger belogen

Es gibt sie noch, die Sternstunden im deutschen Fernsehen - zum Beispiel vergangenen Donnerstag. "Die Story" hieß der Film, und es war eine ARD-Dokumentation über den Kosovokrieg: "Am Anfang war die Lüge".
Zur Erinnerung: Vor knapp zwei Jahren begann der Kosovokrieg. Die Teilnahme daran war die erste außenpolitische Tat der neuen rot-grünen Bundesregierung. Und es war das erste Mal seit 1939, dass deutsche Soldaten wieder in den Kampf zogen: "Hätte jemand (noch im Jahr 1998) angekündigt", schrieb damals der "SZ"-Journalist Heribert Prantl, "dass ein sozialdemokratischer Kanzler, ein grüner Außenminister und ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister den Kampfeinsatz der Bundeswehr gegen einen souveränen Staat befehlen würden, man hätte ihn ins Narrenhaus gebracht."
Narrenhaus? Aber dieser Krieg war ja gar kein Krieg. "Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen", erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder am 24. März in bestem Orwell-Deutsch: "Heute Abend hat die Nato mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen... Wir führen keinen Krieg."
Vier Wochen später, es fielen längst Bomben auf Belgrad, wiederholte Fischer: "Wir führen keinen Krieg, wir leisten Widerstand, verteidigen Menschenrechte, Freiheit und Demokratie."

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Ja, war das so? War es ein gerechter Kampf der Guten gegen das Böse? Musste man Milosevic - der ohne Zweifel massiv und brutal gegen die Kosovo-Albaner vorgegangen war - mit Bomben kommen?
Ja, sicher, sagte die Regierung, und damit das glaubhaft klang, tischten die Minister ihren Bürgern viele Geschichten auf, zeigten viele Bilder. Und kamen mit Moral, vor allem Moral, die jeden Zweifler als bösen Buben abstempelte. Mit Auschwitz verglich Fischer die serbische Brutalität; er sprach "von der Deportation eines ganzen Volkes mit verbrecherischen Mitteln". Beweise dafür - keine.
Scharping sprach von "Völkermord", der "im Gange" sei. Er sprach von "schwangeren Frauen mit aufgeschlitztem Unterleib", von "Konzentrationslagern im Norden von Pristina". Beweise dafür - keine.
Oder doch - es gab ja diese Bilder. Zum Beispiel von zwei besonders blutigen Episoden. Sie vor allem dienten als moralische Rechtfertigung für den militärischen Draufschlag: die Massaker von Racak und von Rugovo.
Doch beide Massaker, das enthüllten nun mehrere Untersuchungen, haben so nicht stattgefunden, Anzeichen für Massenhinrichtungen waren nicht festzustellen.
Im Klartext: Die meisten Geschichten, die erzählt wurden, waren erfunden, die meisten Bilder manipuliert. Fischer und Scharping haben ihre Bürger beschwindelt, belogen und betrogen. Man kann es auch feiner ausdrücken: Sie betrieben eine perfekte Desinformationspolitik.
Gut, könnte man nonchalant sagen, im Krieg bleibt als Erstes die Wahrheit auf der Strecke, das war schon immer so. Aber kann man sich mit solchem Zynismus abfinden?
Was für eine Bedeutung hat der Kosovokrieg (der bekanntermaßen gegen UN-Recht verstieß und gegen die eigene Verfassung sowieso) für das Selbstverständnis der Nato, die neue Weltordnung? Sind solche Einsätze in Zukunft selbstverständlich, wandelt sich das Verteidigungsbündnis in eine globale Interventionsmacht? Das sind Fragen, über die zu diskutieren ist.
Eine profanere, gleichwohl ebenso wichtige Frage ist: Wie und warum hat die Bundesregierung ihre Bürger so belogen? Und: Warum regt das niemanden auf? Warum blieb die ARD-Sendung bisher folgenlos? Warum muss niemand Konsequenzen ziehen?
Wundersames gab es in der Dokumentation "Am Anfang war die Lüge" zu sehen. Man konnte zuschauen, wie ein Minister Märchen erzählt, die physikalische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen. Weil er es nicht besser weiß? Weil er es nicht besser wissen will?
Wie auch immer: Im Kosovokrieg ließ Scharping eine Broschüre auflegen, in der er detailliert die angeblichen Gräuel der Serben auflistete. Etwa wie tückisch die Serben in einem kleinen Dorf Häuser der Kosovo-Albaner zerstört hätten: "Zunächst stellt man (also die Serben) eine brennende Kerze auf den Dachboden, und dann öffnet man im Keller den Gashahn."

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Dörfer wurden zerbombt, Häuser gesprengt - das ist unbestritten. Warum aber fühlte Scharping sich gezwungen zu lügen?
Das ARD-Team war in jenem Dorf, sprach mit den Bewohnern, keiner hat erlebt, dass auf diese Weise Häuser zerstört wurden. Ein UCK-Kämpfer: "So gerieten unsere Häuser nicht in Brand."
Rudolf Scharping wird von der ARD mit den Zweifeln konfrontiert:
"Welche Zweifel sind das?"
"Dass man im Keller den Gashahn aufdreht und auf dem Dachboden eine Kerze aufstellt. Das funktioniert nicht."
"Ja?"
"Ja, es funktioniert nicht, weder chemisch, physisch, überhaupt nicht. Das weiß jeder Oberbrandmeister. Das ist also eine Information, die Ihnen zugetragen worden ist, die nicht korrekt ist."
"Dann würde ich Ihnen raten, diesen Test nochmals zu machen. Aber nicht mit einem Gashahn im Keller, sondern mit einer Flasche."
"Beides funktioniert nicht."
"Ja?"
Der Minister starrt. Er sitzt da und stiert, indigniert. Die Gesetze der Physik? Propangas ist schwerer als Luft? Warum hat ihm das keiner erzählt?
Eine andere Lüge: Am 27. April 1999 gibt Rudolf Scharping eine Pressekonferenz, und er hält bunte Aufnahmen in die Luft - überall Blut, Tote, Leichen. Das Massaker von Rugovo. "Ich muss mir große Mühe geben", sagt Scharping bei der Präsentation dieser Bilder, "dies in einem Ton zu schildern, der nicht gewissermaßen zur Explosion führt": Es sind schreckliche Bilder, und Scharping weiß, wie sie wirken, dass sie eine hohe emotionale Wucht haben. Sie erschüttern ja ihn, den Minister, zutiefst - sagt er. Er hält die Bilder hoch, weiß, dass diese Aufnahmen schon drei Monate alt sind, dass sie manipuliert sind, nicht zeigen, was sie zeigen sollen. Scharping, der Schauspieler.
Ein OSZE-Mitarbeiter war am angeblichen Tatort: der deutsche Polizist Henning Hensch. Und in der ARD-Dokumentation widerspricht er seinem Minister, er habe ihn darauf hingewiesen, dass die Aufnahmen kein Massaker zeigen. Dass die vorgeblich hingerichteten Zivilisten im Gefecht gefallene UCK-Kämpfer sind. Er selbst habe die Toten von verschiedenen Tatorten zusammengetragen. Henning Hensch: "Die Leichen sind von mir und meinen beiden russischen Kollegen abgelegt worden."
"Noch nie haben so wenige so viele so gründlich belogen wie im Zusammenhang mit dem Kosovokrieg", sagte der CDU-Abgeordnete Willy Wimmer, der auch lange Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE war, schon vor einem Jahr. Zwar heile, so Wimmer, die Zeit die Wunden: "Doch Gerhard Schröder, Joseph Fischer und Rudolf Scharping dürfen auf das Tröstliche dieses Satzes nicht hoffen. Der Krieg gegen Jugoslawien wird sie so oder so einholen."
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Knapp zwei Jahre nach dem Krieg herrscht immer noch ein merkwürdiger Unwille, sich mit ihm auseinander zu setzen, den Zweifeln, Fragen, Ungereimtheiten nachzugehen.
Warum diese Zurückhaltung? Da sind offenkundig Minister, die gelogen haben, immer noch lügen - und keine Konsequenzen ziehen. Dafür aber Kritiker des Krieges abservieren.
Zum Beispiel den General Heinz Loquai. Er hat verschiedene Tricksereien der Regierung aufgedeckt, nachgewiesen, dass etwa der "Hufeisenplan" (angeblicher Beweis, dass die Serben lange vor den Bombardierungen "die systematische Vertreibung" der Albaner geplant hätten) eine rein deutsche Erfindung war. Heinz Loquai zieht in der ARD-Dokumentation eine bittere Bilanz: "Man hat in der Vergangenheit der deutschen Generalität oft den Vorwurf gemacht, dass sie dort geschwiegen hat, wo sie etwas hätte sagen sollen. Ich wollte in dieser Sache etwas sagen und Manipulationen und Propaganda nicht als so etwas stehen lassen." Er wurde gefeuert - von der rot-grünen Regierung.
Zum Schluss noch ein Satz (er ist ein paar Jahre alt) von Joschka Fischer: "Ich wünsche mir, dass unsere Partei die Kraft hat, dass dort genügend Pazifisten sitzen, um eine andere, friedensbezogenere Außenpolitik ohne Militär machen zu können."

Arno Luik

Ursprüngliche URL: http://www.stern.de/magazin/deutschland/2001/08/kommentar.html