"Frankfurter Rundschau" v. 17.Juli 2001

Widersprüche spitz wie Trümmerteile

Die zivilen Opfer des Nato-Angriffs auf die Brücke von Varvarin fordern von der Bundesregierung Schadenersatz

Von Rainer Jung (Berlin)

Der Zeuge Milosevic ringt nach Worten. Zwei Stunden lang hat er den Berichten über Blut, Tod und Leiden zugehört, die der Kosovo-Krieg über seine Mitbürger gebracht hat. Hat sich auf die Lippen gebissen und manchmal über die Augenwinkel gestrichen. Jetzt ist er an der Reihe, vom 30. Mai 1999 zu erzählen, dem letzten normalen Tag in seinem Leben.

Predrag Milosevic spricht klar und langsam. Der 30-Jährige redet mit dem Ernst eines einfachen Mannes, dem Ärzte in einer dramatischen Operation ein fast völlig abgerissenes Bein wieder annähen mussten. Der zwei Jahre danach immer noch am Stock geht und bis heute nicht verstehen kann, warum es ihn traf an jenem sonnigen Markttag, als Nato-Düsenjäger die Morava-Brücke im zentralserbischen Städtchen Varvarin bombardierten.

Sicher, es war Krieg. Was Krieg bedeutet, wusste Predrag Milosevic. Er hat als Soldat der jugoslawischen Armee gegen Kroatien gekämpft - "gezwungenermaßen", sagt er bei der Anhörung der PDS-Bundestagsfraktion. Aber wieso kam der Krieg nach Varvarin? Warum haben die Männer in den Jets auf eine Brücke geschossen, auf der keine Panzer unterwegs waren nach dem 200 Kilometer entfernten Kosovo, sondern ein Personenwagen und drei 16-jährige Mädchen? Und aus welchem Grund feuerten die Flieger ein zweites Mal, Minuten später, als bereits zahlreiche Augenzeugen ans Flussufer geeilt waren, um den Opfern der ersten Attacke zu helfen? Bisher stießen die Fragen von Predrag Milosevic immer ins Leere.

Genauso wie das Schluchzen von Marijana Stojanovic. Es schüttelt die heute 18-Jährige noch immer, wenn sie sich an die endlosen Minuten auf den Resten der Brücke erinnert. Mit mehr als ein Dutzend Wunden am Körper lag sie im Wasser. Neben ihr die Freundinnen Marina Jovanovic und Sanja Milenkovic. Sanja starb dann auf dem Weg ins Krankenhaus. In Marinas Rücken stecken jetzt noch mehr als 20 Splitter.

Marijana wirkt nur auf den ersten Blick wie ein normaler Teenager. Sie leidet unter Angstzuständen. Sie hat Narben auf der Seele wie auf der Haut. Marijana hegt einen großen Wunsch: "dass die Verantwortlichen gefunden werden". In Deutschland wie anderswo im Westen sah man bislang wenig Veranlassung zur Suche. Ein Nato-Sprecher hatte die Brücke von Varvarin nach dem Vorfall ein "legitimes militärisches" Ziel genannt. Dass bei dessen Zerstörung zehn Menschen starben und 30 verletzt wurden, allesamt Zivilisten, sei bedauerlich, aber eben ein "Kollateralschaden" im notwendigen Einsatz zur Rettung bedrohter Albaner.

An dieser Sicht der Dinge konnte auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nichts ändern, die den Angriff auf Varvarin scharf kritisiert hatte. Und schon gar nicht das Berliner "Nato-Tribunal" vom vergangenen Sommer. Das verurteilte mit großer Verve Bill Clinton, Tony Blair und die Spitze der rot-grünen Bundesregierung wegen "Aggression gegen einen souveränen Staat". Doch die Resonanz blieb mager. Am Tag, an dem die Friedenskämpfer auseinander gingen, stellte das UN-Kriegsverbrechertribunal Vorermittlungen gegen die Nato offiziell ein. Damit schien die Akte Varvarin geschlossen.

Womöglich muss demnächst ein deutsches Zivilgericht nachholen, was die Weltgemeinschaft unterlassen hat: Die Geschehnisse des 30. Mai 1999 lückenlos aufzuklären. Vor wenigen Wochen hat der Berliner Rechtsanwalt Ulrich Dost nämlich dem Bundeskanzleramt einen Schriftsatz geschickt, in dem er knapp 2,6 Millionen Mark Schadenersatz für die Verletzten und die Hinterbliebenen des Luftangriffs fordert. Bis Ende September soll die Regierung sich erklären. Verweigert Berlin die Entschädigung, will Dost klagen. Als Nato-Mitglied, argumentiert er, hafte die Bundesrepublik Deutschland für Schäden, die die Allianz verursacht habe. Auch wenn in den Kampfflugzeugen wahrscheinlich Briten oder Amerikaner auf den Knopf gedrückt hatten.

Die juristische Konstruktion, auf die sich der Berliner und sein Berater, der Hamburger Rechtsprofessor Norman Paech, stützen, ist neu und unter Juristen nicht unumstritten. Aber sie hat den Vorteil, dass ein überschaubarer Einzelfall ins Zentrum der Argumentation rückt und nicht das große, kaum zu klärende Ganze, nicht also die Abwägung zwischen Staatensouveränität und humanitären Eingriffsrechten, die der renommierte Völkerrechtler Kai Ambos eine "Wertungs- und Glaubensfrage" nennt. Und schon gar nicht der höchst umstrittene Punkt, ob die brutale Vertreibung der Kosovo-Albaner von langer Hand geplant war. Als Ankläger beim "Nato-Tribunal" hatte sich der ostdeutsche Jurist Dost an diesen Punkten festgebissen. Nun lässt er hingegen eine Annahme zu, die ihm eigentlich nicht liegt: "Selbst unter der Voraussetzung, dass der Kriegsanlass legitim gewesen wäre", sagt er, "musste sich die Nato natürlich an das Kriegsvölkerrecht halten."

Zu erforschen, wie das westliche Bündnis in Varvarin mit internationalem Recht umging, könnte spannend werden. Das Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1977 liefert hierfür das Gerüst. Es definiert, wie ein "ordnungsgemäßes" Bombardement auszusehen hat - und wie nicht. Wie hehr die Absichten einer Kriegspartei auch immer sein mögen, direkte Angriffe auf Zivilisten sind verboten. Ebenso Attacken auf militärische Ziele, wenn dabei Verluste unter der Zivilbevölkerung drohen, "die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren Vorteil stehen".

Die Verantwortung für die haarige Abwägung trägt der Angreifer. Das Gesetz verpflichtet ihn, "alles praktisch Mögliche zu tun", um Nichtkombattanten zu schonen. "Die Piloten haben eher das Gegenteil gemacht", urteilt Dost. "Der Angriff war darauf angelegt, Zivilisten zu treffen. Und das ist ein Kriegsverbrechen." Man muss diesen Schluss nicht teilen. Und schon gar nicht Dosts Behauptung, Varvarin und andere Angriffe mit zivilen Opfern seien keine Einzelfälle gewesen. Der Anwalt wittert dahinter vielmehr Methode. Ziel sei gewesen, die jugoslawische Bevölkerung mürbe zu bomben. So als hätte die Nato eine Art Miniaturausgabe der Luftschläge im Sinn gehabt, die Engländer und Amerikaner im zweiten Weltkrieg gegen deutsche Städte führten. Aber auch wenn man derlei Spekulationen ausklammert, fällt es sehr schwer, in der Brückenzerstörung einen militärischen Vorteil zu entdecken, der in irgendeinem "Verhältnis" zum Tod von Sanja Milenkovic stünde oder zu den Verletzungen von Predrag Milosevic.

Die Bundesregierung hält sich bedeckt. Sie bestätigt, dass die Schadenersatzforderung eingegangen ist. Ansonsten gibt es "keinen Kommentar zu einem schwebenden Verfahren". So viel Diskretion, mag sie auch behördenüblich sein, wirkt seltsam teilnahmslos im Vergleich zu der moralischen Inbrunst, mit der rot-grüne Spitzenpolitiker 1999 zu den Waffen riefen, um die Menschenrechte in Jugoslawien zu verteidigen.

Solange wichtige Einzelheiten des Einsatzes geheim bleiben, ragen die Widersprüche im Fall Varvarin ins Heute hinein wie das spitze Trümmerteil, das unweit der wieder aufgebauten Brücke im Boden steckt. Die alte Konstruktion war mit einer Tragfähigkeit von acht Tonnen kaum geeignet für schwere Militärfahrzeuge. Alle Einwohner, die Dost und verschiedene Journalisten befragten, bezeugen übereinstimmend, dass es in der Stadt keine Soldaten gab. Dafür flanierten viele Städter in unmittelbarer Nähe der Brücke über den Markt. Zeugen sagen, die Flugzeuge seien nicht sehr hoch geflogen. "Es wäre für die Piloten möglich gewesen, die Menschenmenge zu erkennen", glaubt Zoran Milenkovic, der Vater der toten Sanja und seit dem Machtwechsel in Serbien Varvarins Bürgermeister.

Wirklich sicher ist indes nur, dass auch ein Prozess keine schnelle Klärung bringen dürfte. Ulrich Dost selber rechnet mit einem mehrjährigen Verfahren. Bislang finanzieren fünf Privatpersonen die Untersuchung, darunter ein Ex-Militärhistoriker der DDR-Armee und ein Solarunternehmer. Seit kurzem wirbt der "Projektrat Varvarin" öffentlich um Geld. Den Spendenaufruf haben mehrere Gewerkschafter, der Politologe Wolf-Dieter Narr, der Leipziger Pfarrer Christian Führer sowie PDS-Abgeordnete unterschrieben. Ein paar Politiker aus anderen Parteien helfen zwar unter der Hand ein wenig, offen mag sich aber keiner erklären.

Die Zeiten sind nicht danach: In Mazedonien steht die nächste schwierige Nato-Mission an. Und beim Stichwort Kriegsverbrechen denkt das politische Berlin zunächst einmal an Slobodan Milosevic, der in Den Haag seine Richter beschimpft. Nicht an Predrag, der demnächst wieder am Bein operiert werden muss.

Siehe auch das FR-Spezial "Machtwechsel in Serbien"

 

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Dokument erstellt am 16.07.2001 um 21:15:33 Uhr
Erscheinungsdatum 17.07.2001