Frau Milenkovic entschuldigt sich für ihre Tränen...
Die Mutter eines ermordeten serbischen Mädchens und ihre Nachbarn aus Varvarin klagen gegen die Bundesrepublik Deutschland 
 
Von René Heilig 
 
Vesna Milenkovic, Sanjas Mutter
Foto: Senft
Sonntag, der 30. Mai 1999 – ein kirchlicher Feier- und der Markttag hatten Hunderte in das kleine serbische Städtchen Varvarin gezogen. Es läutete noch nicht halb zwei, da waren zehn Einwohner tot, über 30 schwer verletzt. Aus heiterem Himmel hatten NATO-Kampfflugzeuge die kleine Brücke über die Morava angegriffen und zerstört.  
Sanja war 15 Jahre alt und eine gute Mathematikerin. Als sie die achte Klasse besuchte, war sie die Jahrgangsbeste in Jugoslawien, 1999 besuchte sie ein spezielles Gymnasium in Belgrad, wollte studieren. Als der Krieg begann, habe ich sie nachts aus dem Wohnheim heim nach Varvarin geholt. Ich wollte, dass sie sicher ist und dachte, der Krieg ist bald vorbei. Es macht doch keinen Sinn, Bomben zu werfen. Dann war meine Tochter tot, von einem Augenblick auf den anderen...« Vesna Milenkovic’ Stimme zittert, auch die Hände. Sie bricht in Tränen aus und entschuldigt sich dafür. Wie verkehrt doch die Welt ist!
Frau Milenkovic klagt gegen die Bundesrepublik Deutschland. Wenn es stimmt, dass jeder Mensch ein Recht auf Leben habe, dann haben die Überlebenden das Recht, jene verurteilt zu wünschen, die Leben nehmen, sagt sie. Diesen Wunsch teilen mit ihr fast 30 weitere Kläger aus Varvarin, Menschen, die einen Angehörigen verloren oder selbst schwer verletzt wurden. Alles Zivilisten, der 200 Kilometer von Kosovo entfernte Ort war frei von jugoslawischem Militär und hatte – so wie die Brücke mit ihren 12 Tonnen Tragfähigkeit auch – keinerlei strategische Bedeutung. Die am nächsten gelegene Kaserne ist 22 Kilometer entfernt. Es gab in Varvarin nicht einmal nennenswerte Industrie, der wichtigste Betrieb stellte Fußmatten für Zastava-Personenwagen her.
Ulrich Dost, Rechtsanwalt aus Berlin, vertritt die Serben in dem Zivilrechtsverfahren, er fordert in ihrem Namen – der juristische Begriff klingt angesichts der grauenhaften Umstände profan – Schadenersatz. Am 24. Dezember hat er beim Berliner Landgericht Klage eingereicht, nachdem die Bundesregierung eine gütliche Einigung abgelehnt hatte. Es geht bei den Fällen nicht darum, ob der Angriff der NATO auf Jugoslawien ohne UN-Mandat völkerrechtswidrig und das Mittun der Bundesrepublik grundgesetzwidrig waren. Entsprechende Klagen hatte der Generalbundesanwalt bekanntermaßen nicht einmal einer längeren Würdigung unterzogen. Dost beruft sich auf das Genfer Abkommen vom 12. August 1959 und insbesondere auf das am 8. Juni 1977 unterzeichnete erste Zusatzprotokoll, das von den meisten NATO-Staaten, auch von der Bundesrepublik Deutschland, ratifiziert worden ist. Es enthält das strikte Angriffsverbot für alle an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien auf die Zivilbevölkerung, einzelne Zivilpersonen und zivile Objekte. Jeder Angreifer ist danach verpflichtet, aufzuklären, ob durch seine Handlungen Zivilisten und nichtmilitärische Objekte in Mitleidenschaft gezogen werden können. Zudem sind Attacken auf unverteidigte Orte ohne Vorwarnung untersagt. Alles Gerede der NATO über »Kollateralschäden«, über ungenügende Sicht oder andere »Irrtümer« seien haltlos, betont Dost. »Denn egal ob ein Pilot im Tiefflug, aus 10000 Metern Höhe oder vom Mond angreift«, sind die völkerrechtlichen Regeln einzuhalten.
Warum ist Deutschland angeklagt – vermutlich kamen die angreifenden Piloten aus den USA? Rechtsanwalt Dost hält ein knappes Dutzend Argumente bereit. Sie beginnen mit der grundsätzlichen Zustimmung Deutschlands zu den Bombardements. Daraus begründet sich unter anderem die so genannte gesamtschuldnerische Haftung. Die Schröder-Fischer-Regierung hatte zudem nicht nur Kenntnis von dem konkreten Angriff auf das unbewaffnete Varvarin, sie bestätigte auch die Zielplanung. Der damalige NATO-Sprecher in Brüssel, der deutsche Luftwaffengeneral Walter Jertz, gab zu, dass alle Mitgliedsstaaten die Ziellisten von beabsichtigten Luftoperationen erhielten. Nur wenn auf politisch-militärischer Ebene Einstimmigkeit erzielt wurde, klinkten die Piloten ihre Todeslasten aus. Fast als Randnotiz erwähnt Dost in der von ihm aufgesetzten Klageschrift die »Verhöhnung der Kläger durch die Beklagte«. Gemeint ist damit der aus dem deutschen Verteidigungsministerium dringende Zynismus. In einem Erwiderungsschreiben heißt es, dass man das bei der Zivilbevölkerung verursachte Leid zutiefst bedauere, gleichwohl aber außerstande sei, individuelle Schadenersatzansprüche anzuerkennen. Perfide begründet das SPD-regierte Ministerium diese gespaltene Denkweise mit der ebenfalls abgelehnten Wiedergutmachung gegenüber griechischen Opfern eines SS-Massakers im zweiten Weltkrieg.
Die quasi als Musterverfahren gedachte Klage ist teuer. Der Streitwert liegt bei exakt 4155541,80 Euro. Wer, wie die Leute aus Varvarin, klagen will, muss einen Gerichtskostenvorschuss von 42189,25 Euro »hinblättern«. Ein aussichtsloses Unterfangen, wäre da nicht ein emsiger so genannter Projektrat. Der wird maßgeblich von der Berliner Familie Kampffmeyer getrieben, die unter anderem sogar ihr Grundstück verpfändete, »um den Opfern ein wenig Gerechtigkeit zu ermöglichen, betonte Harald Kampffmeyer und hofft auf Unterstützung.


Der Projektrat hat bei der Vereinigung Demokratischer Juristen e. V. ein Spendenkonto eingerichtet. Kontonummer: 33522014, Bankleitzahl: 10050000, Berliner Sparkasse. Stichwort: »Schadenersatzklage NATO-Kriegsopfer«. Wer den Opfern »ins Gesicht schauen« mag, dem sei die Ausstellung der Berliner Bildjournalistin Gabi Senft im Berliner Haus der Demokratie (Greifswalderstraße) empfohlen.

(ND 18.01.02)

Neues Deutschland

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