Projekt „NATO-Kriegsopfer klagen auf Schadenersatz“
24.06.06
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde,
da es nun nach längerer Zeit der scheinbaren Ruhe wieder wesentliche Bewegung im Varvarin-Fall gibt, wollen wir Sie hiermit über den aktuellen Stand informieren.
1. Stand der gerichtlichen Auseinandersetzung
Gegen das Urteil der zweiten Instanz – Abweisung wegen Unbegründetheit der Klage – wurde Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) eingelegt.
Die Revisionssache wird dort geführt unter ‚III ZR 190/ 05’.
Im Dezember 2005 wurde fristgerecht die Revisionsbegründung zum III. Senat des BGH eingereicht. Unter Datum vom 18. Mai erwiderte der Prozessvertreter der Regierung, Prof. Dr. Krämer, mit 18-seitigem Schriftsatz auf die Klagebegründung.
Am 07.06.2006 hat der III. Senat des BGH den Termin der mündlichen Verhandlung bestimmt. Dieser ist:
Donnerstag, 19. Oktober 2006, 10.00 Uhr, Saal N 004
am Sitz des BGH:
76125 Karlsruhe, Herrenstraße 45a
2. Beteiligung von Klägern an der mündlichen Verhandlung
Der Projektrat wird sich bemühen, dass Vertreter der Kläger an der Verhandlung teilnehmen können. Näheres ist noch zu klären.
3. Sonstiges
Rechtlich Interessierten stellen wir gerne Kopien sowohl der Revisionsbegründung als auch der Revisionserwiderung (Papierkopien) zu. Es handelt sich um schwerge-wichtige juristische Argumentationen, deren Verständnis schwierig ist.
Bitte bei uns per Telefon (030 – 65 94 29 08) oder per Mail anfordern.
Wir hoffen, zur mündlichen Verhandlung möglichst viele der Unterstützer im Gerichtssaal zu treffen.
Nachfolgen eine vom Absender gefertigte Zusammenfassung des Inhaltes der Revisionserwiderung. Es wird darauf hingewiesen, dass die erforderliche Verkürzung zu Sinnentstellungen geführt haben könnte, die wir zu entschuldigen bitten.
Für den Projektrat
Harald Kampffmeyer
Zusammenfassung wesentlicher Inhalte der
Revisionserwiderung im Fall BGH,
III ZR 190/05 (Varvarin-Klage).
Revisionserwiderung verfasst durch Prof. Dr. Achim Krämer,
Rechtsanwalt beim BGH und Prozessvertreter der Bundesregierung.
[Beginn]
Antrag:
Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Revision der Kläger stand.
Begründung:
I. Die Klage ist unbegründet wegen Fehlens eines Verstoßes gegen das humanitäre Völkerrecht
- Die NATO war die eigentliche kriegsführende Partei gegen Jugoslawien gewesen. Sie ist nur an Völkergewohnheitsrecht gebunden, nicht jedoch an bestimmte Verträge, wie Genfer Konvention, deren Zusatzprotokoll 1 (ZP I) u. a., da sie selbst nicht Unterzeichner und somit Mitglied dieser Verträge ist. Auch „namhafte Mitgliedsstaaten“ (USA, Türkei) sind keine Partei bestimmter Vereinbarungen, z.B. des ZP I.
- Da der Revisionsfall aber allein die Mitwirkung der Beklagten (der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Regierung) an den Kriegshandlungen zum Gegenstand habe, sei das Handeln der Beklagten dennoch am ZP I zu messen, da die BRD Vertragspartei des ZP I ist.
- Varvarin war kein „unverteidigter Ort“, der nach Art. 59, Abs. 1 des ZP I nicht hätte angegriffen werden dürfen.
„Unverteidigte Orte“ können nur entmilitarisierte, bewohnte Orte in der Nähe oder innerhalb des Frontbereiches sein, die zudem auch noch der anderen Konfliktpartei als solche angezeigt hätten sein müssen sowie ihr (der anderen Konfliktpartei) zur Besetzung hätten geöffnet sein müssen. Varvarin lag aber nicht im oder in der Nähe eines Frontbereiches und war auch nicht der Gegenpartei als „unverteidigt“ angezeigt. Zudem führte die NATO – erfolgreich - nur einen Luftkrieg, in dem keine Frontbereiche existierten. Auch schon daher konnte Varvarin nicht der Definition eines „unverteidigten Ortes“ unterfallen.
- Ein Angriff auf die Zivilbevölkerung liegt nicht vor, da der NATO-Angriff allein der Brücke galt. Das Ziel des Angriffes bestand in der Zerstörung der Brücke. Diese Brücke war aber – wie alle Brücken – ein legitimes, militärisches Ziel, denn Brücken können immer auch durch Truppen genutzt werden. Die Zerstörung der Varvariner Brücke habe der NATO einen Vorteil im Sinne Art. 52, Abs. 2, ZP I gebracht. Daher greife die Vermutungsregel des Art. 52, Abs. 3, ZP I nicht, wonach im Zweifelsfall von dem zivilen Charakter eines Objektes auszugehen sei.
- Nach Anlage 3, Bundesdrucksache 11/6770, S. 132 hat die Beklagte bei Ratifizierung des ZP I einen Vorbehalt zur interpretativen Erklärung geltend gemacht, wonach es „für die Planung, Entscheidung und Durchführung von Angriffen“ stets auf die Informationen ankomme, „die im Zeitpunkt des Handelns zur Verfügung standen“, und nicht auf den nachträglich erkennbaren tatsächlichen Verlauf. Somit kann in Augen der Beklagten der Angriff nur dann rechtswidrig gewesen sein, wenn ihr zur Zeit der Entscheidung und des Handelns die Information vorgelegen hätte, dass die Brücke von Varvarin – ausnahmsweise – keine strategische Bedeutung hatte.
- Nach Erkenntnissen der NATO – so auch ihre Pressemitteilung einen Tag nach dem Angriff – habe über die Varvariner Brücke ein Hauptverkehrsweg geführt. Auf die tatsächliche (geringe) Tragfähigkeit der Brücke komme es dagegen nicht an.
- Ziel des Angriffes war die Zerstörung eines militärischen Objektes – der Brücke – im Sinne des Art. 52, Abs. 2, ZP I, woraus folgt, dass es sich nicht um einen verbotenen Angriff auf die Zivilbevölkerung gehandelt habe. Das auch zumal ja das Ziel der gesamten NATO-Aktion gerade die Verhinderung einer humanitären Katastrophe im Kosovo gewesen sei und sich die NATO erfolgreich um die maximale Schonung der Zivilbevölkerung bemüht habe.
- Die Beklagte bedauert, dass bei dem Angriff Zivilisten zu Schaden kamen, weil sie „zur falschen Zeit am falschen Ort“ waren. Diese Zivilisten selbst seien aber nicht das Ziel gewesen. Dass diese getroffen wurden beweise jedoch nicht, dass es sich um einen „unterschiedslosen Angriff“ gehandelt habe. Vielmehr sei die unvermeidliche Verwundung von Zivilpersonen bei Angriff auf ein militärisches Ziel nicht generell verboten.
- Neben humanitären Erwägungen nach Art. 57, Abs. 2, ZP I, (d.h. Angreifer muss alles Mögliche tun, dass Zivilisten und zivile Objekte nicht angegriffen werden; dass Angriffsmittel und –methoden so gewählt werden, dass Zivilisten und zivile Objekte nicht verwundet oder geschädigt werden; dass Angriff unterlassen wird, wenn mit unverhältnismäßigen Verlusten / Schäden unter Zivilisten / an zivilen Objekten zu rechnen ist; muss wirksam vor Angriff warnen, wenn Zivilisten getroffen werden können – H.K.) seien durch die Beklagte auch militärische Erwägungen anzustellen gewesen, nach denen zum Schutz der eigenen Flugzeugbesatzungen das dafür erforderliche Überraschungsmoment zu berücksichtigen gewesen sei.
- Die Opfer unter der Zivilbevölkerung sind allein im Brückenbereich aufgetreten. Das beweist, dass die Kampfmittel der Flugzeuge allein auf das militärische Ziel – die Brücke – gerichtet waren. Auch von daher scheide die Vermutung eines „unterschiedlosen Angriffes“ aus.
-
Dem ICTY (vom UN-Sicherheitsrat geschaffenes
Sonderstraftribunal zur Verfolgung mutmaßlicher Kriegsverbrechen auf dem
Territorium des früheren Gesamtjugoslawien – H.K.) wurde in 2000 eine Reihe von
Verdachtsfällen möglicher NATO-Kriegsverbrechen angezeigt. Zu einigen der
angezeigten Fälle wurde durch die dortige Anklagebehörde ein nichtformelles
Vorverfahren durchgeführt, um festzustellen, ob hinreichender Anfangsverdacht
zur Eröffnung formeller Ermittlungsverfahren bestehe. Varvarin wurde angezeigt
aber von der Anklagebehörde nicht in den Kreis der mit nichtformellem
Vorverfahren versehenen Fälle aufgenommen. Auch endeten alle Vorverfahren mit
dem Ergebnis, dass in keinem Falle ein hinlänglicher Anfangsverdacht bestünde,
der die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen die NATO gerechtfertigt
hätte.
Diese Ergebnisse – wenn auch ohne rechtskraftähnliche und tatbestandliche
Bindewirkung – sollten im vorliegenden Verfahren eine herausragende Bedeutung
insbesondere bei Auslegung des Inhalts des ZP I haben.
II. Individualansprüchen der Kläger aus dem Völkerrecht bestehen nicht
- Individuelle, klagbare Ansprüche von Einzelpersonen bestehen nicht. Art. 3 des IV. Haager Abkommens vom 18.10.1907 und Art. 91, ZP I enthalten nur Haftungsansprüche, die zwischen beteiligten Staaten bestehen.
- Drittschützende Bestimmungen des Völkerrechtes (so die Schutzrechte der Zivilisten lt. ZP I) führen nicht – bei ihrer Verletzung – zu durchsetzbaren Individualansprüchen. Hier kommt nur das Staatshandeln auf diplomatischem Wege des Heimatstaates für seine geschädigten Bürger infrage. Das auch, da die Leistungsfähigkeit des verantwortlichen Staates zu berücksichtigen ist.
- Würde das Völkerrecht selbst individuelle, durchsetzbare Ansprüche begründen, wäre es den Staaten durch Verträge untereinander und durch Gesetzgebung im Bereich der innerstaatlichen Regelung nicht mehr möglich, derartige Ansprüche in zulässiger Weise auf ihre wirtschaftliche Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit angemessen zu begrenzen. Es müsse also bei einer Begrenzung, die durch bestehende (oder fehlende) zwischenstaatliche Verträge und erfolgte (oder fehlende) Gesetzgebung gegeben sei, bleiben.
III. Ansprüchen der Kläger aus innerstaatlichem, deutschen Recht bestehen ebenfalls nicht
- Die Grundrechte der Verfassung kommen als Anspruchsgrundlage nicht in Betracht. Der Schutz der serbischen Zivilbevölkerung erfolgt im Krieg nur durch das humanitäre Völkerrecht, das im Krieg das nationale, deutsche Recht wenn schon nicht suspendiert, so aber doch mindestens überlagert.
- Eine etwaige Haftung der Beklagten wegen Handelns ihrer Beamten nach BGB § 839 existiert nicht. Denn BGB § 839 setzt für Haftung voraus, dass ein Beamter einem Dritten gegenüber seine Amtspflicht verletzte. Als § 839 geschaffen wurde, schloss er keinesfalls die Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen mit ein. Die historische Auslegung hinsichtlich der Schaffung des § 839 erlaubt keine Annahme, dass hiermit ein Haftungsanspruch begründet werden sollte, weder gegen den die Regeln der Kriegsführung verletzenden Soldaten, noch gegen seinen Staat.
- Die Rechtslage bestand allgemein so anerkannt bis 1945 fort. An dieser Rechtslage hat sich aber nach Ansicht der Beklagten auch nach 1945 nichts geändert. Es wäre alleinige Sache des Souveräns, des gesetzgebenden deutschen Parlamentes gewesen, nationale gesetzliche Regelungen zu schaffen, nach denen Ansprüche aus Völkerrechtsverletzungen anerkannt und abgegolten werden könnten. Jedoch hat der Souverän, der Gesetzgeber, bisher keine solche Gesetzgebung vorgenommen und somit keine Anspruchsgrundlage geschaffen.
- Selbst wenn jedoch Ansprüche aus deutschem Amtshaftungsrecht hergeleitet werden könnten, also ein Rechtsweg bestünde, hätten die Kläger dennoch im vorliegenden Fall keinen Schadensersatzanspruch, denn es fehlt an der Pflichtverletzung von deutscher Seite. Die Auswahl der Brücke von Varvarin als Ziel kann nicht als Pflichtverletzung gerügt werden, da diese ein legitimes Ziel war.
- Bestritten wird durch die Beklagte, dass Flugzeuge ihres NATO-Kontingents in irgend einer Weise direkt oder indirekt an dem Angriff auf die Brücke von Varvarin mitwirkten. Gegenbeweis wurde nicht geführt.
- Die Beklagte hat keinesfalls vorsätzlich an einer möglicher Weise illegitimen Weise der Zerstörung der Brücke mitgewirkt, da sie nach dem NATO-Grundsatz des „need-to-know“ nichts von der beabsichtigten Art und Weise des Angriffes wusste.
- Konfliktpartei auf Seiten der Alliierten war die NATO, die somit für eine etwaige Verletzung des humanitären Völkerrechtes verantwortlich wäre. Eine Haftung der NATO-Mitgliedsstaaten käme, wenn überhaupt, nur subsidiär in Betracht, etwa wenn die NATO so unterkapitalisiert wäre, dass sie selbst Ansprüche nicht befriedigen könnte.
- Nach Auffassung der Beklagten ist der bewaffnete Konflikt eine Ausnahmesituation, bei der es auch um das Leben des Amtsträgers (des eigenen Soldaten) und um die Existenz oder Souveränität seines Staates geht. Hier müssen andere Maßstäbe gelten als gewöhnliches Amtshaftungsrecht. Das Amtshaftungsrecht ist für derartige Schadensfälle weder bestimmt noch geeignet, daher nicht anwendbar.
[Ende]