Bundesgerichtshof

Mitteilung der Pressestelle


Nr. 151/2006

 

Bundesgerichtshof verneint Ersatzansprüche der Geschädigten des NATO-Angriffs auf die Brücke von Varvarin gegen die Bundesrepublik Deutschland

Aufgrund eines entsprechenden Beschlusses der Mitgliedstaaten der NATO führte diese ab dem 24. März 1999 mit dem erklärten Ziel, in dem damaligen Jugoslawien eine drohende humanitäre Katastrophe infolge des Kosovo-Konflikts zu verhindern, Luftoperationen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien durch. An diesen Operationen beteiligten sich mit Zustimmung des Deutschen Bundestages auch deutsche Luftstreitkräfte. Am 30. Mai 1999 griffen Kampfflugzeuge der NATO die am Ortsausgang der serbischen Kleinstadt Varvarin  etwa 180 km südöstlich von Belgrad - über den Fluss Morava führende Brücke mit Raketen an und zerstörten sie. Hierbei wurden zehn Menschen getötet und 30 verletzt, davon 17 schwer; bei sämtlichen Opfern handelt es sich um Zivilpersonen. Kampfflugzeuge der Bundesrepublik Deutschland waren an dem Beschuss der Brücke nicht unmittelbar beteiligt. Ob und inwieweit die deutschen Luftstreitkräfte Unterstützungsleistungen erbracht haben, ist streitig, ebenso, in welcher Form deutsche Dienststellen an der vorausgegangenen Auswahl der Ziele der Luftangriffe beteiligt waren.

Die  insgesamt 35, teilweise in Erbengemeinschaften verbundenen - Kläger, Staatsangehörige des früheren Jugoslawiens, haben die beklagte Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz  in zweiter Instanz begrenzt auf billige Entschädigung in Geld für immaterielle Schäden (Schmerzensgeld) - wegen der Tötung von Angehörigen und eigener erlittener Verletzungen in Anspruch genommen. Sie haben geltend gemacht, die Beklagte hafte für die Folgen des von NATO-Streitkräften durchgeführten Angriffs auf die Brücke aufgrund der Verletzung humanitären Völkerrechts und auch nach den Grundsätzen des deutschen Amtshaftungsrechts. Sie haben der Beklagten vorgeworfen, im Rahmen der NATO das ihr mögliche Vetorecht gegen die Auswahl der Brücke von Varvarin als militärisches Ziel nicht ausgeübt und zudem den Angriff selbst durch grundsätzliche Zusage und Übernahme von Aufklärung, Begleitschutz und Luftraumschutz unterstützt zu haben.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und das Oberlandesgericht die hiergegen gerichtete Berufung der Kläger zurückgewiesen. Dieses Urteil haben die Kläger mit ihrer  vom Oberlandesgericht zugelassenen - Revision angegriffen.

Der unter anderem für das Amtshaftungsrecht zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision der Kläger zurückgewiesen.

Ein Schadensersatzanspruch der Kläger gegen die Bundesrepublik Deutschland auf einer völkerrechtlichen Grundlage scheidet schon deshalb aus, weil im Falle von Verletzungen des Kriegsvölkerrechts etwaige völkerrechtliche Wiedergutmachungsansprüche gegen den verantwortlichen fremden Staat nicht einzelnen geschädigten Personen, sondern nur deren Heimatstaat zustehen. Diese völkerrechtliche Lage, von der der Bundesgerichtshof für die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bereits in einem früheren Urteil (Distomo-Entscheidung) ausgegangen ist, besteht auch heute noch  insbesondere im Hinblick auf Art. 91 des ersten Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu dem Genfer Abkommen vom 12. August 1949 - weiter. Mangels einer völkerrechtlichen Anspruchsberechtigung der Kläger stellt sich auch nicht die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine (Mit)Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland für ein etwaiges völkerrechtliches Delikt, unabhängig von unerlaubten Handlungen oder Unterlassungen der eigenen Bediensteten, schon allein aus der Beteiligung an der NATO-Operation im Kosovo-Konflikt in Betracht kommt.

Auch einen Schadensersatzanspruch der Kläger gegen die Beklagte aus nationalem (deutschem) Recht hat der Bundesgerichtshof verneint. Als Anspruchsgrundlage für einen solchen Anspruch kommt allein das Institut der Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) in Betracht. In der Distomo-Entscheidung hatte der Bundesgerichtshof ausgesprochen, dass nach dem Verständnis des Amtshaftungsrechts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs militärische Kriegshandlungen im Ausland vom Amtshaftungstatbestand ausgenommen waren. Ob hieran auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes festzuhalten ist, hat der Bundesgerichtshof in dem vorliegenden Urteil offen gelassen.

Ein hierauf gestützter Schadensersatzanspruch der Kläger gegen die Bundesrepublik Deutschland scheitert im Streitfall jedenfalls daran, dass im Zusammenhang mit dem Angriff gegen die Brücke von Varvarin keine Amtspflichtverletzungen deutscher Soldaten oder Dienststellen  im Sinne konkreter (schuldhafter) Verstöße gegen Regeln des humanitären (Kriegs-)Völkerrechts zum Schutz der Zivilbevölkerung - vorliegen. Da die deutschen Luftstreitkräfte an dem Kampfeinsatz gegen die Brücke von Varvarin nicht unmittelbar beteiligt waren, könnten ihnen etwaige Völkerrechtsverstöße bei diesem Kampfeinsatz  selbst wenn er in objektiver Hinsicht Unterstützung durch von deutscher Seite gewährten Luftraumschutz gefunden haben sollte - allenfalls dann unter dem Gesichtspunkt einer Amtspflichtverletzung zugerechnet werden, wenn die deutschen Dienststellen über das konkrete Angriffsziel und Einzelheiten des betreffenden Luftangriffs informiert gewesen wären. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Dass die deutschen Dienststellen hierüber keine Informationen hatten, kann ihnen ausgehend von dem nach dem unwiderlegten Vortrag der Beklagte bei der gesamten NATO-Operation praktizierten Grundsatz "need to know" nicht vorgeworfen werden; danach verfügten die beteiligten Mitgliedsstaaten nur über diejenigen Informationen, die sie für ihre eigene Beteiligung an der jeweiligen konkreten Operation benötigten.

Eine Pflichtverletzung deutscher Dienststellen liegt auch nicht darin, dass diese – legt man den Vortrag der Kläger zugrunde - vorher daran mitgewirkt haben, dass die Brücke von Varvarin in eine Zielliste der Luftoperationen der NATO aufgenommen worden war. Der Bundesgerichtshof ist dem Berufungsgericht darin beigetreten, dass den militärischen Dienststellen bei ihren Entscheidungen für eine militärische Operation oder im Rahmen derselben ein umfangreicher, gerichtlich nicht nachprüfbarer, Beurteilungsspielraum zusteht. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht diesen Beurteilungsspielraum erst bei völliger Unvertretbarkeit oder eindeutiger Völkerrechtswidrigkeit der betreffenden militärischen Entscheidung als überschritten ansieht. Das Berufungsgericht hat in rechtsfehlerfreier tatrichterlicher Würdigung angenommen, dass diese Schwelle im Zusammenhang mit der  von den Klägern behaupteten - Billigung der Aufnahme der Brücke von Varvarin in die Zielliste der NATO-Operationen durch die Beklagte nicht überschritten worden ist. Diese tatrichterliche Würdigung lag schon deshalb nahe, weil zu den militärischen Zielen traditionell unter anderem die Infrastruktur wie Straßen, Eisenbahnen, Brücken, Fernmeldeeinrichtungen gezählt wird. Das konnte für eine Aufnahme in die Zielliste ausreichen, selbst wenn die Entscheidung zu einem militärischen Angriff letztlich nur unter der Voraussetzung hätte erfolgen dürfen, dass die Zerstörung der Brücke (zu diesem Zeitpunkt) einen eindeutigen militärischen Vorteil mit sich brachte. Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht ausgeführt, die Beklagte habe bei ihrer Zustimmung zur Zielauswahl darauf vertrauen dürfen, dass ein etwaiger Angriff unter Beachtung des Völkerrechts erfolgen werde.

Urteil vom 2. November 2006  III ZR 190/05

OLG Köln, Urteil vom 28. Juli 2005 - 7 U 8/04

LG Bonn, Urteil vom 10. Dezember 2003 - 1 O 361/02

Karlsruhe, den 2. November 2006

Pressestelle des Bundesgerichtshof
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501