Kriegsfolgen

NATO-Kriegsführung und Umweltfolgen

V O N   K N U T   K R U S E W I T Z

 

1. Problemstellung

Aus umweltwissenschaftlicher Sicht ist die Frage erheblich, welche Methoden und Mittel der Kriegsführung die NATO während ihrer Operation Allied Force anwandte und welche Schäden sie dadurch in der natürlichen und sozialen Umwelt verursachte. Erheblich deshalb, weil der begründete Verdacht besteht, die Kriegsallianz gegen Jugoslawien habe gegen Prinzipien und Normen des Umweltkriegsverbot-Vertrages und gegen Umweltschadensverbote des humanitären Völkerrechts verstoßen.

Die einschlägigen kriegsvölkerrechtlichen Bestimmungen erfassen einmal die vorsätzliche Schädigung der Umwelt im Rahmen der Kriegsführung. Zum andern erfassen sie auch Kollateralschäden, wenn sie zu ausgedehnten, lang andauernden, schweren Schäden der natürlichen Umwelt führen und dadurch eine bedeutende Störung des menschlichen Lebens, der natürlichen und wirtschaftlichen Hilfsquellen mit sich bringen. In diesem Fall wäre es nicht nur umwelt-, sondern auch völkerrechtsrelevant, wenn erweisbar wäre, daß die Allianz im Rahmen ihrer Kriegsführung umweltbezogene Methoden und Mittel verwendet hat, die dazu bestimmt waren oder von denen zu erwarten war, daß sie solche nachhaltigen Umweltschäden verursachen würden. Dann handelte es sich um schwere Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges, die als Kriegsverbrechen geahndet werden können.

Auf diesem Hintergrund avancierte inzwischen die Frage, ob die Umweltbilanz des Krieges die Folgerung zuläßt, die NATO habe tatsächlich einen Umweltkrieg gegen Jugoslawien geführt, zu einem international streitigen Thema.

Ich versuche mit diesem Beitrag zur Klärung dieser Kontroverse beizutragen. Dazu ist es nötig, zunächst Aussagen über die Umweltschäden in der Kriegsregion zu machen; anschließend versuche ich, diese Umweltschäden völkerrechtlich einzuordnen und zu bewerten.

 

2.  Wie werden Umweltschäden des Krieges ermittelt und bewertet?

2.1 Zur Kritik am UNEP-Konzept

Bereits während des Krieges, noch bevor die erste empirische Umweltschadensbilanz vorlag, verfügte der Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (engl.: United Nations Environmental Programme: UNEP), der frühere CDU-Umweltminister Klaus Töpfer, daß der Krieg keine Umweltkatastrophe verursacht habe.

Er gab am 11. Mai 1999 die Einrichtung einer Balkans Task Force (BTF) bekannt, einer besonderen UNEP-Umweltarbeitsgruppe für das Kriegsgebiet. Sie sollte "glaubwürdige Informationen über die Umweltfolgen der Kosovo-Krise sammeln und vergleichen" (Haavisto, 1999), um "Spekulationen über eine ökologische Katastrophe durch den Kosovo-Krieg" (Süddeutsche Zeitung, (a) 1999, S. 7) den Boden zu entziehen. Tatsächlich ging es Töpfer nicht um Spekulationen, sondern um Handfestes. Seine BFT sollte beizeiten bestimmte Umweltinformationen sammeln, mit denen die NATO gegebenenfalls beweisen konnte, daß sie einen völkerrechtskonformen Krieg geführt hat. Indem Töpfer das UNEP und die BTF instrumentalisierte, machte er alle wissenschaftlichen Aussagen über die ökologische Bedeutung des Krieges zu einem Thema mit umwelt- und militärpolitischer, vor allem aber völkerrechtlicher Brisanz.

Der UNEP-BTF wurde eine apologetische Leistung abverlangt, die den inneren Zusammenhang zwischen Untersuchungsauftrag, Untersuchungsmethode und Untersuchungsergebnis strukturierte. Wegen der überragenden exkulpatorischen Funktion des UNEP-Abschlußberichts ist eine methodenkritische Auseinandersetzung zwingend.

2.2.1 Untersuchungsauftrag:

Töpfer erteilte der BFT nur einen technisch verkürzten Untersuchungsauftrag, der weder die militärischen und völkerrechtlichen noch sozialen Umweltaspekte des Krieges thematisieren sollte. Zum Untersuchungsauftrag gehörte deshalb nicht die umweltwissenschaftlich naheliegende und völkerrechtlich erhebliche Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kriegsführungsmethode der NATO und den Umweltschädigungen, die dadurch in der Balkanregion entstanden sind.

Pekka Haavisto, der Leiter dieser Technical Mission, formulierte dies zweifelhafte Untersuchungskonzept dann in ein scheinbar objektives umweltwissenschaftliches Bilanzierungsprogramm um: "Der Auftrag wird in fünf Themengruppen unterteilt: 1. Abschätzung der Umweltschäden zerstörter Industrieanlagen; 2. Donau; 3. Konsequenzen des Krieges für Naturressourcen …; 4. Langzeiteffekte der Krise für menschliche Gesundheit und Umwelt; 5. Menschliche Siedlungen." (Haavisto, ebd.)

Entgegen ihrer Ankündigung befaßte sich die BTF dann aber vor Ort nicht mit den "Langzeiteffekten der Krise für menschliche Gesundheit und Umwelt". Das könnte möglicherweise eine Langzeitstudie leisten, die die EU-Kommission kürzlich in Auftrag gab. Ihr Titel: "Gründliche Bewertung der Umwelteinflüsse durch den Krieg in Jugoslawien" (EU-Kommission, 1999). Ihr Endbericht soll allerdings erst im Herbst 2000 vorliegen. Die UNEP-Arbeitsgruppe versuchte statt dessen, die Gefährdung der Umwelt durch abgereicherte Uranmunition (depleted uranium: DU) abzuschätzen. Da sich die NATO weigerte, Angaben über die Menge der eingesetzten DU-Waffen und ihre Zielgebiete zu machen, war sie gezwungen, eine Depleted Uranium Desk Assessment Group einzuberufen, die in Genf tagte.

2.2.2 Untersuchungsmethode:

Die politische Vorgabe des UNEP-Direktors begünstigte bei der BTF eine spezifische Perzeption der ökologischen Kriegsfolgen, die eben nicht an Objektivitäts-, sondern vielmehr an Opportunitätsüberlegungen ausgerichtet blieb. Indem die BTF die außerwissenschaftliche Vorgabe ihres politischen Auftraggebers kritiklos akzeptierte, blendete sie gerade solche wissenschaftlich beachtlichen Realitätsbereiche aus, die eine objektive Berichterstattung selbstverständlich zum integralen Bestandteil einer unbefangenen Analyse und Bewertung gemacht hätten.

Die BTF legte ihr Untersuchungsprogramm so an, daß sie den unauflöslichen Themenzusammenhang zwischen NATO-Kriegsführung, Wahl der Mittel der Kriegsführung und den dadurch verursachten Umweltschäden in den außerwissenschaftlichen Datenkranz verbannte. Nur auf diese Weise konnte sie die schweren Kriegsschäden an der natürlichen und sozialen Umwelt als bloße Kollateralschäden behandeln, gleichsam als Betriebsunfälle des Krieges.

2.2.3 Untersuchungsergebnis:

Die BTF hat es anscheinend niemals gestört, daß sie einen Bericht abliefern sollte, dessen Ergebnis bereits feststand, bevor sie erste Schadensmessung vor Ort, unabdingbare Voraussetzung ihrer gutachterlicher Bewertung umweltbezogener Kriegsschäden, vornahm.

Trotz – oder wegen – der politisch verfügten Realitätsimmunisierung und der damit verbundenen Problemreduktion fand die BTF Belege dafür, daß die NATO immerhin an vier Standorten, nämlich Pancevo, Kragujevac, Novi Sad und Bor, erhebliche Umweltschäden verursacht hatte.

Ihre Untersuchungsergebnisse waren allerdings insofern trivial, weil sie nur das bestätigten, was Störfallexperten/innen schon vorher wußten: Wer Industriekomplexe militärisch zerstört – Einrichtungen der Petrochemie, Erdölraffinerien, Treibstofflager, Kraftwerke, Munitionsfabriken, Düngemittelfabriken und Chemiewerke –, setzt dadurch umwelt- und gesundheitsgefährdende Stoffe frei, die sich natürlich auch in der Umgebung der bombardierten Anlagen niederschlagen. Aber eben nicht nur dort, denn sie verteilen sich durch Thermik, Wind- und Wasserverfrachtungen eher weiträumig.

Diesen wichtigen ökologischen Tatbestand übersah die BTF geflissentlich, obwohl ihr damals einschlägige Meßergebnisse des Fachbereichs Umwelttechnik der Demokritos Universität Xanthi (Trakien) bekannt waren (Rapsomanikis, 1999, S. 1 - 4; Süddeutsche Zeitung, (b) 1999, S. 5).

Fazit: Das methodische Konzept der UNEP-BTF war kaum geeignet, eine Umweltschadensbilanz zu erarbeiten, die ihrem eigenen Anspruch genügt hätte, nämlich "einen neutralen, objektiven und wissenschaftlich glaubwürdigen umfassenden Bericht" (Haavisto, ebd.) zu präsentieren. Damit trägt der empirische Teil des UNEP-Berichts wenig zur Klärung der hier beachtlichen Frage bei, ob die NATO einen Umweltkrieg geführt hat oder nicht.

2.3 Umweltplanerische Problemstellung

Die Weltkriege und spätere Formen der "modernen" Kriegsführung verursachten nicht nur Schäden an der natürlichen, sondern auch an der sozialen Umwelt (Krusewitz, 1985; ders. 1991, S. 5 - 7). Aufgabe einer aufklärerischen Umweltwissenschaft ist es deshalb, nicht nur die "ökologischen Kollateralschäden" – die Primäreffekte des Krieges – zu ermitteln und zu bewerten, worauf sich die UNEP-BTF wesentlich beschränkte, sondern auch deren Sekundär- und Tertiäreffekte. Ob der Krieg gegen Jugoslawien tatsächlich nur Kollateralschäden an der natürlichen Umwelt verursacht hat oder ob er nicht vielmehr großräumige, lang anhaltende und schwere Beeinträchtigungen der natürlichen und sozialen Umwelt bewirkte, ist erst zu beurteilen, wenn seine primären, sekundären und tertiären Effekte untersucht werden. Dazu verwende ich eine Ermittlungsmethode, die ich bei der Analyse moderner Kriege entwickelt habe.

2.3.1 Primäreffekte:

Welche Methoden und Mittel der Kriegsführung wählte die NATO? Welche Waffen hat sie dabei verwendet? Welche toxischen/carcinogenen/strahlenden Stoffe gelangten dadurch in die Umwelt, aus welchen Quellen stammten sie, in welchen Mengen geschah dies, und wie breiteten sie sich räumlich aus? Welche Schäden lassen sich in der Biosphäre (im regionalen Naturhaushalt), in Kulturlandschaften, Großschutzgebieten, Erholungsgebieten sowie internationalen Modellregionen (UNESCO-Biosphärenreservaten) nachweisen?

Über die Primäreffekte des Krieges ist inzwischen einiges über kleinräumige, aber wenig über flächenhafte Umweltschäden bekannt. Primärdaten wurden vor allem an bombardierten Industriestandorten erhoben.

Angegriffen und zerstört wurden durch Bomben- und Raketenangriffe über 20 Anlagen, die gefährliche Stoffe und/oder Kräfte enthielten wie

– Erdölraffinerien, Pipelines, Tanklager, Verladestationen;

– Werke der chemischen und pharmazeutischen Industrie;

– Ammoniak-, Düngemittel- und Pflanzenschutzmittelfabriken.

Dabei wurden in erheblichem Umfang carcinogene, toxische und ökotoxische Stoffe freigesetzt. Bislang wurden solche Schadstoffe an folgenden Standorten gemessen und nachgewiesen (Stephan/Strobel/Klaß, 1999; FOCUS, 1999; Technokratia, 1999; UNEP/UNCHS, 1999):

Pancevo: 1.2 Dichlorethan (ECD), Vinylchlorid Monomer (VCM), Dioxine, Furane, Phosgen, Benzo(aa)pyren, Ammoniak, polychlorierte Biphenyle (PCBs), Quecksilber, Schwefeldioxid, Stickoxide, Ruß, Rauch.

Kragujevac: PCBs, Dioxine, Furane, Benzol, Toluol, Tetrachlorethylen, Trichlorethan, Kupfer, Zink, Kobalt.

Novi Sad: PCBs, hh-Hexan, flüssige Kohlenwasserstoffe, Schwefeldioxid, Blei, Quecksilber, Ruß, Rauch.

Bor: PCBs, Kupfer, Arsen, Cadmium, Blei, Zink.

Kraljevo: flüssige Kohlenwasserstoffe, Diesel, Toluol, Benzol.

Nis: flüssige Kohlenwasserstoffe, PCBs, Dioxine.

Novi Beograd: flüssige Kohlenwasserstoffe, Benzin.

Smederova: Ruß, Rauch, PCK, flüssige Kohlenwasserwasserstoffe.

Cacak: Schwermetalle.

Soviel zu den primären Effekten des Krieges. Unstreitig ist, daß die Operation Allied Force in der Umgebung der zerstörten Industriekomplexe die natürliche Umwelt erheblich geschädigt und dadurch die Gesundheit der Bevölkerung gefährdet hat. Streitig ist allerdings, ob die Umweltschäden nur erheblich oder nicht vielmehr weiträumig, lang anhaltend und schwerwiegend waren. Darauf komme ich im Abschnitt über die völkerrechtliche Bewertung der Kriegsführung zurück.

2.3.2 Sekundäreffekte:

Wie wirken sich welche Schadstoffe und welche Umweltbeeinträchtigungen auf Menschen, Gesundheit, Land-, Forst- und Wasserwirtschaft, Schutzgebiete, Modellregionen, Wasserversorgung, Verkehrsinfrastruktur und Siedlungen aus? Welchen Trends folgen die Konzentrationen von Schadstoffen im Laufe der Zeit, und was sind die Gründe dafür? Sind in Gebieten mit hohem Risiko (z. B. bei zerstörten Chemiefabriken) Notfallmaßnahmen zu ergreifen? Welche technischen Verfahren müssen zur Schadensverringerung oder -behebung eingesetzt werden? Sind militärische Altlasten rechtzeitig erkennbar und zu sanieren? Kann der ökologische Status quo ante wiederhergestellt werden?

Zu diesem Zeitpunkt sind in der Republik Jugoslawien erst wenige Daten über Sekundäreffekte erhoben worden. Das hat innen- und sanktionspolitische, Aufbau bedingte, aber auch umweltmeßtechnische Gründe, auf die nicht ausführlicher eingegangen wird.

Allerdings kann am Beispiel der bombardierten Industriekomplexe in Pancevo der ursächliche Zusammenhang zwischen primären und sekundären Umwelteffekten der NATO-Kriegsführung beispielhaft dargestellt werden. Die NATO griff mehrfach mit Marschflugkörpern (Cruise Missiles) den Industriestandort Pancevo an – einen Komplex aus Petrochemie, Ölraffinerie, Düngemittelfabrik, Vinylchlorid-Monomer- und Ethylenanlagen –, und zerstörte ihn samt seiner großen Vorratslager. Die dadurch freigesetzten Giftstoffe bildeten nach jedem Angriff Giftwolken, die jeweils ätzende Gemische enthielten aus ECD, Vinylchlorid Monomer (VCM), Dioxinen, Phosgen, Schwefeldioxid, Stickoxide, Benzo(aa)pyren und Ammoniak.

In einigen Bombennächten waren die Giftkonzentrationen so hoch wie nach einem Großangriff mit C-Waffen. Die Bevölkerung war diesen Giftstoffen mehrfach ausgesetzt, in fast allen Fällen ungeschützt. Deswegen werden sich die Gesundheitsschäden "zum Teil erst in vielen Jahren zeigen". (Stephan, 1999, S. 42)

2.3.3 Tertiäreffekte:

Welche volkswirtschaftlichen Kosten entstehen durch Wiederaufbau- und Sanierungsprogramme? Wer finanziert sie? Wie wirken sich die Kriegsfolgen auf den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingungen aus? Wie verändern die natürlichen und sozialen Kosten des Krieges den Lebensstandard, die kulturellen und Bildungsbedingungen der Gesellschaft? Sind die ökonomischen, politischen und internationalen Entwicklungsoptionen der Kriegsparteien erheblich eingeschränkt? Die wirtschaftlichen Schäden sind deshalb von umweltplanerischer Bedeutung, weil ihr Umfang darüber entscheidet, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen die natürlichen und sozialen Umweltkosten des Krieges finanziert werden können.

Die drei industriellen Schlüsselsektoren Jugoslawiens, Chemie, Energie und Metallverarbeitung, wurden schwer geschädigt: Die Petrochemie, einträglichster Industriezweig des Landes, ist mit unabsehbaren ökologischen Folgeschäden fast völlig zerstört, das moderne Chemiewerk Petrochemija in Pancevo wurde dem Erdboden gleichgemacht.

Vernichtet sind ebenfalls die beiden Düngemittelfabriken in Novi Sad und Pancevo. Dies ist eine "besonders schwere Hypothek für die Zukunft. Jugoslawien ist ein Agrarland und hat die Jahre der Isolation nur dank eigener Lebensmittelproduktion überlebt. In den vergangenen Jahren ist der Anteil Landwirtschaft am Bruttosozialprodukt von 35 auf fast 50 Prozent gestiegen." (Israel, 1999, S. 8)

In Pancevo standen auch die größten Raffinerien Jugoslawiens, die nun in Trümmern liegen. Die Energiewirtschaft ist der zweite zentrale Wirtschaftssektor, der durch den Krieg schwer beeinträchtigt wurde. "Im Schlüsselsektor metallverarbeitende Industrie wurden die Anlagen der Zastava-Gruppe, vor allem in Kragujevac, weitgehend zerstört. 120 Zulieferfirmen hängen an diesem Automobilkonzern." (Spiegel, 1999, S. 153)

Eine erste Bilanz der Tertiäreffekte in der Volkswirtschaft ergibt nach einer Bestandsaufnahme jugoslawischer Ökonomen folgendes Bild: "Auf Grund des Krieges und seiner Konsequenzen wird die industrielle Produktion in der Bundesrepublik Jugoslawien im Vergleich zum Vorjahr um 44,4 Prozent fallen. … Das Bruttosozialprodukt werde um 40,7 Prozent sinken, die Im- und Exporte um mehr als 50 Prozent, die Arbeitslosigkeit werde auf 32,6 Prozent steigen." (Süddeutsche Zeitung, (c) 1999, S. 25)

 

3. Kriegsvölkerrechtliche Bewertung der Umweltschäden

 Zur Klärung der Frage, ob die NATO einen Umweltkrieg gegen Jugoslawien führte, trägt das Kriegsvölkerrecht bei. Die einschlägigen Prinzipien und Normen finden sich

– im Übereinkommen über das Verbot der militärischen oder einer sonstigen feindseligen Nutzung umweltverändernder Techniken nebst Anhang und Absprachen vom 18. Mai 1977 – Umweltkriegsverbots-Übereinkommen; engl.: Environmental Modification Convention – zitiert als ENMOD-Convention – (Fahl, 1980, S. 136 - 143) und

– im 39. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977 – zitiert als ZP I – (Randelzhofer, 1999, S. 569 - 617).

Nach den Erfahrungen der amerikanischen Kriegsführung in Vietnam verabschiedeten die Vereinten Nationen im Jahre 1977 die ENMOD-Convention; die BRD ratifizierte dies Gesetz im Jahr 1983.

Nach Artikel I des Abkommens ist es verboten, "umweltverändernde Techniken, die weiträumige, lange andauernde oder schwerwiegende Auswirkungen" haben, als Mittel der Kriegsführung zu nutzen. "Zielrichtung ist also der Gebrauch sog. ‘environmental modification techniques’ als militärische Instrumente, d. h. der gezielte Mißbrauch der Umwelt als Waffe." (Oeter, 1994, S. 98) Jede militärische "Manipulation natürlicher Abläufe" (Artikel II) ist danach untersagt.

Die Absprachen (Understandings) zu den Artikeln I und II regeln, daß als weiträumig ein Gebiet von mehreren hundert Quadratkilometern gilt; lange andauernd sind militärische Schäden, wenn sie über eine Periode von mehreren Monaten (ungefähr eine Jahreszeit) hinaus anhalten und schwerwiegend ist danach eine Auswirkung, die eine ernste oder bedeutende Störung oder Schädigung des menschlichen Lebens, der natürlichen wirtschaftlichen Hilfsquellen oder sonstiger Güter mit sich bringt.

Wenn eine dieser Beschränkungen verletzt wird, greift das Verbot der ENMOD ein.

Mit Artikel 35 Abs. 3 ZP I und der komplementären Norm des Artikel 55 in diesem Zusatzprotokoll wurde ein "absolutes Verbot nachhaltiger Umweltschäden in das Humanitäre Völkerrecht eingeführt". (Oeter, ebd.)

Ist erkennbar oder zu vermuten, daß es zu ausgedehnten, lang andauernden und schweren Schäden der natürlichen Umwelt kommt, ist der Einsatz solcher umweltschädigender Mittel und Methoden auch dann nicht mehr zulässig, wenn er vorgeblich militärisch notwendig ist.

Die "bewußte Herbeiführung ebenso wie die reine Inkaufnahme von nachhaltigen und schweren Schäden an der Umwelt wurde somit im Rahmen der Kriegsführung völlig geächtet.

Die Normen des Zusatzprotokolls I gehen im Prinzip also deutlich weiter als das Verbot der ENMOD. Erfaßt werden nicht nur die absichtliche Schädigung der Umwelt im Rahmen der Kriegsführung (wie beim Umweltkriegsübereinkommen), sondern auch die reinen Kollateralschäden." (Oeter, ebd.)

Da jede moderne Kriegsführung erhebliche Kollateralschäden an der Umwelt verursacht, ist die Frage nach den den Krieg beschränkenden Bestimmungen im Zusatzprotokoll I nicht von überragendem militärischen, sondern auch pazifistischem Interesse.

"Die Diplomatische Konferenz hat deshalb die analog der ENMOD verwendeten Schwellenbegriffe ‘ausgedehnt’, ‘lang anhaltend’ und ‘schwer’ auch nicht alternativ (wie bei ENMOD), sondern kumulativ benutzt. Nur Kollateralschäden, bei denen große Flächen in Mitleidenschaft gezogen werden, die gleichzeitig über einen längeren Zeitraum andauern und die zudem noch schwere Beeinträchtigungen der natürlichen Umwelt nach sich ziehen würden, werden von den Verboten der Art. 35 Abs. 3, 55 ZP I erfaßt." (Oeter, a. a. O., S. 99)

 

4. Anwendung der völkerrechtlichen Bewertungskriterien
auf NATO-Kriegsführung

Hier wird eingeräumt, daß eine umfassende, systematische Analyse des umweltrelevanten Datenmaterials, sollte sie überhaupt möglich sein, bis zu diesem Zeitpunkt (Okt. 1999) noch nicht geleistet wurde. Dennoch reichen die in den Daten steckenden Informationen hin, um aufschlußreiche Ergebnisse über den Zusammenhang zwischen Kriegsführung und Umweltfolgen zu gewinnen: Danach halten bestimmte Primär-, Sekundär- und Tertiäreffekte lange an, sie treten weiträumig auf und sie verweisen auf schwere Schäden an der natürlichen Umwelt, wodurch die Gesundheit der Bevölkerung erheblich gefährdet ist. …

4.1 Lang anhaltende Umweltschäden

Verletzungen der Bestimmungen in Absprachen zu Art. I, II ENMOD-Convention i. V. m. Art. 35 Abs. 3, Art. 55 Abs. 1 ZP I.

Entgegen dem Eindruck, den die UNEP-Arbeitsgruppe vermittelte, gestalten sich Datenerhebung und Gefährdungsabschätzung der Umweltschäden kompliziert, weil durch die Zerstörung der Industriekomplexe von den verschiedenen Stoffen Mischkontaminationen gebildet werden. "Die Wechselwirkung solcher Schadstoffgemische im Untergrund ist ausgesprochen schwierig zu bewerten und noch wenig erforscht." (UBA, 1999, S. 9) "Mit Sicherheit geht von den in Folge der Zerstörung von Industriealtlasten entstandenen Schadstoffgemischen eine weit über das Kriegsende hinausreichende Gefährdung der Menschen in den betroffenen Regionen aus." (UBA, a. a. O., S. 10)

Diese prognostische Aussage haben das Gefahrstoff-Büro (Halle) und Öko-Control (Dessau) im Fall Opovo bestätigt: "Near Opovo, forest damage which suggests contamination by fumes was clearly perceptible. … Crop losses (probably over a period of several years) should be taken in account, as well as a detrimental impact upon the natural fauna and flora." (Stephan/Strobel/Klaß, a. a. O., S. 54)

4.2 Weiträumige Umweltschäden

Verletzungen der Bestimmungen in Absprachen zu Art. I, Art. II ENMOD-Convention i. V .m. Art. 35 Abs. 3, Art. 55 Abs. 1 ZP I.

Überdies geht die Gefährdung weit über die betroffenen Regionen hinaus. Dazu zwei empirische Belege:

– "The results from Pancevo (including Opovo) and Novi Sad show that the chemical consequences of the war are not limited to local effects but are of at least regional impact, and since they also effect the Danube they could have also trans-border impacts." (Stephan/Strobel/Klaß, a. a. O., S. 53)

– "Between March 24 and June 10, 1999 a large number of chemicals were ejected in the atmosphere because of air strikes in chemical industries and oil storage facilities in former Yugoslavia. Chemicals released in the atmosphere under suitable meteorological conditions can be transported across borders to large distances. The releases contain not only conventionel air pollutants but also semi-volatile organic compounds (SVOs) which include dioxins, furans, PCBs, PAHs and organic phthalates, all known to be hazardous to health." (FOCUS, 1999)

Warum anscheinend nur griechische Umweltinstitute die weiträumigen Schadstoffverfrachtungen in Europa gemessen haben, bleibt klärungsbedürftig.

4.3 Schwerwiegende Umweltschäden

Verletzungen der Bestimmungen in Absprachen zu Art. I, II ENMOD-Convention i. V. m. Art. 35 Abs. 3, Art. 54 Abs. 2, Art. 55 Abs. 1 ZP I.

Das Umweltbundesamt (UBA) wies bereits am 5. Mai 1999 darauf hin, daß durch die Umweltfolgen des Krieges eine "zivile Nutzung weiter Teile dieser Regionen wegen der Gefährdung für die Gesundheit aus den Kontaminationen von Boden, Grund- und Oberflächenwasser nicht möglich sein wird". (UBA, 1999, S. 10) Diese Prognose wurde bislang in zwei schwerwiegenden Fällen bestätigt. Es handelt sich um die bedeutende Schädigung natürlicher und wirtschaftlicher Hilfsquellen sowie des menschlichen Lebens einmal durch die Freisetzung von Polychlordibenzodioxinen (PCDDs: Seveso-Dioxin) und Polychlordibenzofuranen (PCDFs) sowie zum andern durch die Freisetzung radiotoxischer und chemotoxischer Zerfallsprodukte der Uranmunition (DU-Munition).

4.3.1 Zu den Wirkungen der PCDDs/PCDFs:

"It can be claimed that considerable amounts of PCDDs/PCDFs must have been distributed by gas clouds. [It] would therefore be necessary [to] examine the contamination of agricultural and horticultural lands over which the gas clouds passed, the substances carried by the clouds would have been partly distributed by precipitation. The values obtained … reach limits for agricultural and horticultural land use and suggest the need for inspection and remidial action or restricted use." (Stephan/Strobel/Klaß, a. a. O., S. 52)

Das sei zwar "keine Umweltkatastrophe, aber eindeutig eine Umweltbelastung", urteilte der Leiter der Abteilung Umweltchemie der Universität Ulm, Karlheinz Ballschmiter. Die carcinogenen Dioxine und Furane würden überwiegend in landwirtschaftlichen Produkten abgelagert und "zu 95 Prozent über die Nahrungskette aufgenommen". So werden Kühe auch hierzulande demnächst eine höhere Belastung haben. "Über die Milchprodukte sind die Menschen betroffen." Allerdings sei die "Belastung in Belgrad und in der Umgebung sehr viel höher. Würde man dort in zwei Jahren die Muttermilch untersuchen, würde sich das Ergebnis in den darin enthaltenen Schadstoffen widerspiegeln." (Süddeutsche Zeitung, (a), a. a. O., S. 5)

4.3.2 Zu den Wirkungen der DU-Munition:

Im April 1999 meldeten diverse deutsche Medien, die NATO habe "bestätigt, daß das US-Militär in Jugoslawien radioaktive Uran-Munition einsetzt. Zugleich dementierte die Allianz aber Berichte über eine Gefährdung unbeteiligter Zivilisten." (Fuldaer Zeitung, 1999, S. 3) Diese Behauptung der NATO war falsch. Richtig hingegen ist, daß die Verwendung dieser Munition eine erhebliche Gefahr für Mensch und Natur darstellt.

In natürlichem Zustand ist das Schwermetall Uran eine Mischung aus den Isotopen U235 und U238. Das Isotop U235 ist nur in geringem Umfang in diesem Schwermetall vorhanden. Zur Verwendung von Uran in Nuklearwaffen ist es notwendig, den Anteil von U235 durch Anreicherungsverfahren zu erhöhen. Dabei fällt U238 in größeren Mengen an. Dies U238 wird auch als depleted uranium (DU) bezeichnet.

Das militärische Interesse an DU wurde geweckt, weil es eine erheblich größere Dichte als andere zur Munitionsherstellung verwendete Materialien hat. So ist DU fast dreimal so schwer wie Stahl, was einer mit DU gefüllten Granate eine sehr viel größere Durchschlagskraft etwa gegenüber der Panzerung von Militärfahrzeugen verleiht. Weil DU weicher ist als Stahl, wird es beim Durchdringen der Panzerung pulverisiert. Wenn ein solches Geschoß auf die Zieloberfläche schlägt, wird ein großer Teil der kinetischen Energie als Hitze abgeleitet. Dabei entzündet es sich und wirkt deshalb im Innern eines Panzers wie ein Brandgeschoß. (Rodejohann, 1977, S. 39 ff.) Nach der Explosion wirkt U238 als Alphastrahler radiotoxisch und als Schwermetall chemotoxisch.

"Nach inzwischen vorgenommenen Untersuchungen beträgt die Dosisleistung der Radioaktivität des von mir (i. e. Prof. Siegwart-Horst Günther) 1991 gefundenen Projektils an der Oberfläche 11 mikroSv. pro Minute. Die zulässige Jahresdosis wird in Deutschland mit 300 mikroSv. angegeben. Beim Umgang mit einem Uran-Geschoß wird demnach die Jahresdosis in reichlich einem Tag erreicht." (Günther, 1999, S. 184) In der Luft binden sich die Uranteilchen an Aerosole. Sie können über die Atemwege oder über die Nahrungskette aufgenommen werden. Mögliche Folge: "Anämie, Leukämie, Knochentumore und Keimschäden". (Wolff, 1998, Faltblatt)

Obwohl sich die NATO bislang weigert, Angaben zu machen über Einsatzgebiete und Einsatzmengen der DU-Munition, steht fest, daß sie diese Waffe in der Region Prizren verwendet hat. "Wissenschaftler am Nationalen Institut für Gesundheitsschutz in Mazedonien haben während des Kosovo-Konflikts im April achtfach höhere Werte jener Alpha-Strahler in der Luft gemessen, die von Uran-Geschoßen stammt." (Peterson, 1999, S. 11) Auch das serbische Umweltministeriums hat "im Kosovo eine erhöhte radioaktive Strahlung in Höhe von 3,4 Mega Becquerel gemessen. Sie sei durch nicht spaltbares U238 verursacht worden, das in den von amerikanischen Flugzeugen vom Typ A-10 abgeschossenen Geschossen enthalten sei". (IPPNW, 1999, S. 23) Die britische Strahlenschutzbehörde warnte im Juli, daß die größten Risiken im Kosovo dort zu suchen seien, wo Uranmunition verschossen wurde. Deshalb waren dort stationierte britische Truppen angewiesen, Schutzkleidung anzulegen, "wenn der Kontakt mit Zielen, die von Uran-Munition getroffen wurden, unvermeidlich ist". (Peterson, ebd.)

Für einen wirksamen Schutz der Zivilbevölkerung vor den nachhaltigen Gesundheitsgefahren dieser Munitionskomponenten hat sich bislang allerdings noch niemand zuständig erklärt.

4.4 Nachhaltige Umweltschäden waren absehbar (Art. 35 Abs. 3, Art. 55 Abs. 1 ZP I)

Die hier vorgelegten Beweise dafür, daß die NATO mit ihrer Kriegsführung ausgedehnte, langanhaltende und schwere Schäden an der natürlichen und sozialen Umwelt verursacht hat, richtet das Erkenntnisinteresse auf die Frage, ob sie dabei vorsätzlich handelte oder aus Unkenntnis.

Die Bundesregierung nahm zu diesem Sachverhalt wie folgt Stellung: "Die Zielplanung, d. h. die Auswahl des Zieles und die Wahl des Angriffsverfahrens, war so angelegt, daß mögliche Kollateralschäden, vor allem an Zivilpersonen, aber auch an der Umwelt vermieden wurden. Hierzu wendete die NATO ein komplexes Verfahren an, in das alle verfügbaren Informationen über das Ziel selber, über mögliche Kollateralziele sowie über die Wirkungsweise der verschiedenen, zur Bekämpfung in Frage kommenden Waffenarten einfloß. Zum Teil wurden Computersimulationen genutzt, um die Waffe mit dem niedrigsten Kollateralschadensrisiko auszuwählen. Rechtsexperten bewerteten jedes Ziel auf eine völkerrechtliche Zulässigkeit der Bekämpfung." (Deutscher Bundestag, Drs. 14/1788, S. 4)

Diese Argumentation überzeugt kaum, weil sie die nachhaltigen Umweltschäden des Krieges nicht erklärt. Bemerkenswerter ist da schon der völkerrechtliche Hinweis, und zwar aus zwei Gründen.

Einmal, weil innerhalb der kriegsführenden Staaten höchst unterschiedliche Auffassungen darüber bestanden, was im Rahmen der Operation Allied Force als völkerrechskonform gilt und was nicht. So haben die USA im Gegensatz zu anderen NATO-Staaten die einschlägigen Kriegsvölkerrechtsverträge seit über zwanzig Jahren nicht ratifiziert.

Zum andern, weil er die Frage provoziert, was das für Völkerrechtler sein müssen, die eine Kriegsführungsmethode für völkerrechtskonform halten, wonach Chemieanlagen als sekundäre Umweltwaffe genutzt werden dürfen, um einen chemischen Krieg ohne Chemiewaffen gegen Natur und Mensch zu führen.

Und ob die Zielplaner Computersimulationen tatsächlich für den angegeben Zweck eingesetzt haben, kann solange nicht überprüft werden, bis die NATO-Kriegsministerien die als geheim eingestuften Waffenwirkungsanalysen (BDA: Battle Damage Assessment) veröffentlichen. (Deutscher Bundestag, a. a. O., S. 3) Schließlich hätten die Militärs mit solchen Simulationen auch die Waffe mit der größten Schadenswirkung auswählen können.

Im Falle von Pancevo gibt es Indizien für diese Annahme.

Nach den Bombardierungen der VCM-Anlage der Chemiefabrik HIP AZOTARA mit Cruise Missiles trat unter anderem Phosgen aus, ein Stoff, der 1,5fach so giftig wirkt wie Blausäure. "After the bombing on April 15 and 18, and thus after the destruction of the VCM plant by fire, test results showed the following pollution levels: … phosgene: concentration detected: 10 ppm; concentration causing irritation: 1 - 3 ppm; lethal concentration: 10 ppm." (Stephan, Strobel und Klaß, a. a. O., S. 21 f.) 1 ppm (part per million) ist das Kürzel für 1 Gewichtsanteil auf eine Million Gewichtsanteile (= 1 mg/kg).

Durch solche Angriffe gefährdete die NATO bewußt Leben, Gesundheit und Sicherheit der Zivilbevölkerung sowie die Biosphäre im Ballungsraum Belgrad. Bewußt, denn sie konnte die verheerenden Folgen absehen. Das Militärbündnis entwickelte schon vor zwei Jahrzehnten ein ausgeprägtes Interesse ausgerechnet für Phosgen-Störfallszenarien.

Einer der damaligen Störfallforscher, der inzwischen zum Mitglied des Vorstandes der Deutschen Shell AG avancierte Chemiker Fritz Vahrenholt, referierte 1979 auf einem NATO-Symposium in Rom die Ergebnisse einschlägiger Computerszenarien:

"Für Phosgen, das im Ersten Weltkrieg als Kampfgas gegen die Franzosen eingesetzt wurde und heute in einer Reihe chemischer Prozesse benötigt wird, wurde vom TÜV Rheinland 1978 berechnet, welche Auswirkungen ein Störfall unter extrem ungünstigen Bedingungen haben kann: In dicht besiedelten Regionen wie dem Raum Köln über 2.000 Tote und fast 20.000 Schwerverletzte. (Vahrenholt, 1982, S. 193) 1979 wurde die Untersuchung im Auftrag der NATO von dem Berliner Meteorologen Bernd Gutsche mit einem mathematisch-meteorologischen Ausbreitungsmodell wiederholt. Ergebnis: "Abhängig von den Wetterbedingungen kann eine Phosgen-Wolke sich bis zu sechs, aber auch über 100 Kilometer weit ausbreiten, wobei in der inneren Zone jeweils jeder zweite Bewohner sterben würde. Im schlimmsten Fall wäre dabei ein Areal von rund 1.200 Quadratkilometern betroffen." (Gutsche, 1980, S. 217) Die kritische Menge dieser brisanten Chemikalie, die eine solche Katastrophendynamik auslösen könnte, beträgt 2 Tonnen. Mit wie vielen Toten und Verletzten rechnete die NATO im April 1999 vor ihrem Angriff auf den Chemiekomplex?

Offenbar müssen wir unser Verständnis von Giftgaskrieg revidieren. Moderne Chemiewaffenkriege werden nicht mehr mit primären, sondern mit sekundären Giftgaswaffen geführt, also durch die ökologisch-meteorologisch angeleitete Bombardierung von Anlagen, die gefährliche Stoffe und/oder Kräfte enthalten.

Da die NATO-Kriegsplaner die kritischen Mengen solcher Chemikalien kannten, die, wenn sie durch einen Angriff freigesetzt werden, chemiewaffenähnlich wirken, unterstelle ich ihnen, daß gerade die Unbeherrschbarkeit militärisch verursachter Chemiestörfälle zum taktischen Bestandteil der Kriegsführung gehörte.

Diese Hypothese stützte das Umweltbundesamtes bereits während des Krieges durch folgende störfall-prognostische Annahme:

"Generell ist davon auszugehen, daß bei Freisetzungen, Bränden und Explosionen von Gefahrstoffen in:

– Anlagen der Erdölraffinerie alle Inhaltsstoffe der Erdölfraktion einschließlich Polycyclischer Kohlenwasserstoffe (PCK) beteiligt sein können;

– Anlagen der Düngemittelindustrie insbesondere Ammoniak, Salpetersäure, Phosphate beteiligt sind; bei Bränden ist mit größeren Mengen nitroser Gase zu rechnen;

– Treibstofftanks, einschließlich Flüssiggaslager, unter Umständen mit erheblichen Schädigungen durch Explosionen mit Trümmerwurf zu rechnen ist, freigesetzte flüssige Kohlenwasserstoffe überdies zu Boden- und Wasserverschmutzung beitragen; …;

Anlagen der Chemischen Industrie eine unübersehbare Gefährdung aufgrund der spezifischen Eigenschaften der beteiligten Stoffe vorhanden sein kann." (UBA, a. a. O., S. 4)

Die Gefahrenstoffe können in die Atmosphäre, den Boden, in Folge auch in das Grundwasser oder in Oberflächengewässer verfrachtet werden. "Großbrände bewirken aufgrund der damit verbundenen Thermik eine weitreichende, grenzüberschreitende Verteilung der Schadstoffe." (UBA, ebd. S. 5)

Der Fall Pancevo erklärt schließlich, warum die NATO glaubte, nur mit Methoden und Mitteln der Umweltkriegsführung ihr strategisches Ziel erreichen zu können. Sie richtete vorsätzlich Kollateralschäden an, die große Flächen in Mitleidenschaft zogen, die gleichzeitig über einen längeren Zeitraum andauern und die dadurch die Gesundheit der Bevölkerung ernsthaft gefährden, und zwar mit der Absicht, die Bevölkerung gegen ihre gewählte Regierung aufzubringen. "Die NATO-Luftkampagne [sic!] hat den militärischen Beitrag dazu geleistet, daß Sloboda [!] Milosevic letztendlich einlenkte. Der jugoslawische Präsident spürte zuletzt, daß die Bevölkerung die durch die Angriffe gegen militärisch relevante Ziele hervorgerufenen Beeinträchtigungen des täglichen Lebens wohl nicht mehr lange zu ertragen bereit gewesen wäre." (Deutscher Bundestag, Drs. 14/1788, S. 4)

Nur aus der Perspektive einer totalen Kriegsführung müssen alle Ziele in der natürlichen und sozialen Umwelt als militärisch relevant erscheinen. Aber eben nur aus dieser. Für die betroffenen Menschen in Jugoslawien dagegen dürfte die kaltschnäuzige Behauptung unserer Bundesregierung, die NATO-Luftangriffe hätten sich "nicht gegen die jugoslawische Bevölkerung und auch nicht gegen die jugoslawische Wirtschaft gerichtet" (Deutscher Bundestag, Drs. 14/1788, S. 4), als Verhöhnung ihres Kriegsleidens erscheinen.

Literatur:

1. Haavisto, Pekka, Telefax vom 9. Juli 1999 an den Leiter des österreichischen World Wildlife Fund (WWF) in Wien (eig. Übers.).

2. Süddeutsche Zeitung (a) vom 24. Juli 1999, S. 7.

3. Haavisto, a. a. O. (s. o. Anm. 1), S. 1 (eig. Übers.).

4. Europäische Kommision, Vergabe eines Dienstleistungsauftrages: Gründliche Bewertung der Umwelteinflüsse durch den Krieg in Jugoslawien, Product code: 90312000, Brüssel 15. Sept. 1999.

5. Spyridon Rapsomanikis et. al., "A Pollution Episode of Organic Semi-Volatile Compounds from the war-zone of Kosovo, detected in Xanthi, Greece". In: http//www.duth.gr/cosovo/pollution.html , S. 1-4; Süddeutsche Zeitung (b) vom 11. Mai 1999, S. 5.

6. Krusewitz, Knut, Umweltkrieg. Militär, Ökologie und Gesellschaft, Königstein 1985; ders. "Golfkrieg und Ökologie: Ein heiliger, gerechter Umweltkrieg?". In: Garten und Landschaft, Jg. 101, H. 4 (April) 1991.

7. Stephan/Strobel/Klaß, Analysis of the Environmental Damage caused by the Bombing of Chemical and Petrochemical Industries in Pancevo and Novi Sad, Halle-Dessau 1999.

8. FOCUS, Assessment Mission 2 to the Federal Republic of Yugoslavia: Ecology. Executive Summary and Final Report, Bern 1999.

9. Tehnokratia, Special Issue: War in Europe. Overview of Ecological Consequences of NATO Bombing of Yugoslavia, ed. 2/1999.

10. UNEP/UNCHS, The Kosovo Conflict. Consequences for the Environment & Human Settlements, Nairobi 1999.

11. Stephan, Ursula, in: Greenpeace Magazin, Ausg. 6 (Nov.-Dez.) 1999, S. 42.

12. Israel, Stephan, "Den Bomben folgt soziale Not". In: Frankfurter Rundschau vom 30. April 1999.

13. Spiegel, Jg. 53, Nr. 18 vom 3. Mai 1999

14. Süddeutsche Zeitung (c) vom 9. Nov. 1999.

15. Fahl, Gundolf, Rüstungsbeschränkung durch internationale Verträge, Berlin (West) 1980.

16. Randelzhofer, Albrecht, Hrsg., Völkerrechtliche Verträge, 8. Aufl., München 1999.

17. Oeter, Stefan, "Kampfmittel und Kampfmethoden". In: Dieter Fleck, Hrsg., Handbuch des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten, München 1994.

18. Umweltbundesamt, Erste Einschätzungen zu den ökologischen Auswirkungen des Krieges in Jugoslawien, Ms., Berlin 1999.

19. Fuldaer Zeitung vom 22. April 1999.

20. Rodejohann, Jo, "Entreichertes Uran als Munition". In: Antimilitarismus Information, Jg. 7, H. 2 (Febr.) 1977, S. III - 39 f.

21. Günther, Siegwart-Horst, "Uran-Geschosse(DU-Munition)". In: Ulrich Cremer/Dieter S. Lutz, Hrsg., Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Die Sicht der anderen zum Kosovo-Krieg und ihre alternativen Lehren und Konsequenzen, Hamburg 1999.

22. Wolff, Roland, Abgereichertes Uran, Merkblatt, Lüdenscheid 1998.

23. Peterson, Scott, "Die Spur der Kugel. Neue Beweise über radioaktive Verstrahlung im Kosovo". In: Freitag vom 15. Okt. 1999.

24. Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf Drs. 14/1419, Kriegsbilanz (I): Zerstörungen durch die NATO-Luftangriffe auf die Bundesrepublik Jugoslawien. In: Drs. 14/1788 vom 11. Okt. 1999.

25. Süddeutsche Zeitung, a. a. O., (s. o. Anm. 2), S. 7.

26. Vahrenholt, Fritz, in: Egmont Koch/Fritz Vahrenholt, Im Ernstfall hilflos? Katastrophenschutz bei Atom- und Chemieunfällen, Frankfurt am Main 1982.

27. Gutsche, Bernd, "Störfallszenarien aus dem Computer". In: Koch/Vahrenholt, a. a. O.